Huete dich vor deinem Naechsten
Aber ich hatte mich verliebt, Hals über Kopf. Und ihm schien es genauso zu ergehen. Wenige Monate nach unserer ersten Begegnung machte er mir einen Antrag.
Er lud mich nach Prag ein, wir wohnten im Four-Seasons-Hotel nahe der Mala Strana. Wir mieteten ein Auto und fuhren zu der etwa eine Stunde entfernt gelegenen Kleinstadt, wo er zur Welt gekommen war und bis zu seiner Ausreise gelebt hatte. Es gab keine Verwandten, denen er mich hätte vorstellen können. Die Schwester seiner Mutter, jene Tante, die ihn großgezogen hatte, war ein Jahr zuvor, wie er mir erzählte, an Eierstockkrebs gestorben.
Wie die vielen anderen Touristen schlenderten wir durch die hübschen Kopfsteinpflastergassen, betraten die Andenkenläden und tranken in einem Lokal das einheimische Bier. Über die Geschichte von Kutná Hora wusste er einfach alles. Früher war die Stadt wegen ihrer Silberminen die wichtigste in ganz Böhmen gewesen, heute ist sie vielen Prag-Touristen nicht mehr als einen Abstecher wert.
Mit den Einheimischen unterhielt Marcus sich auf Tschechisch, und er erzählte mir, wie das Leben im Kommunismus funktioniert hatte. Wie sie um jenes Haus in einer langen Schlange anstanden, als Orangen aus Kuba eingetroffen waren; dass die Regale in jenem Laden dort ständig leer gewesen und wie sie in jener kleinen Schule in kommunistischer Propaganda unterrichtet worden waren.
Auf dem Rückweg in die Stadt kehrten wir in einem kleinen böhmischen Restaurant ein, das mit den schweren Eichentischen, der hölzernen Wandverkleidung und den wuchtigen Deckenbalken aus dem Mittelalter hätte stammen können, wären da nicht die Jukebox und die vielen Halbstarken gewesen, die die Bar belagerten, rauchten und Bier aus großen Gläsern tranken. Der Kellner brachte uns eine riesige, gusseiserne Pfanne voller Fleisch und Kartoffeln. Wir aßen, bis wir nicht mehr konnten.
Marcus war den ganzen Tag über sehr still gewesen. Nicht mürrisch oder griesgrämig, sondern einfach nur nachdenklich, vielleicht sogar traurig. Ich stellte mir vor, dass es für ihn schwer sein musste, an den Ort zurückzukehren, an dem er so viel verloren hatte - seine Eltern, seine Tante. Ich drängte ihn nicht.
»Isabel«, sagte er, als wir auf den Nachtisch warteten. Sein Akzent kam stärker durch denn je zuvor; selbst während unserer Reise hatte ich ihn nie so deutlich herausgehört. Es war, als verbände ihn der Besuch in der alten Heimat, das Reden in der Muttersprache, mit einem verleugneten, unterdrückten Teil seiner selbst. »Ich hätte nie gedacht, mit einem anderen Menschen herzukommen. Ich habe es mir nicht einmal vorstellen können.«
»Ich bin froh, dass du mir alles gezeigt hast«, sagte ich. »Ich fühle mich dir jetzt noch viel näher.« Er beobachtete mich aufmerksam, und ich spürte, wie ich rot wurde. Er war nicht gut aussehend oder schön im herkömmlichen Sinn. Aber seine Energie, seine markanten Gesichtszüge übten eine magnetische Anziehungskraft auf mich aus und ließen mich innerlich erglühen. Er schlug die Augen nieder.
»Ich möchte alles mit dir teilen«, sagte er leise. Er griff in seine Tasche und schob ein dunkelblaues Samtkästchen über den Tisch. »Isabel. Vielleicht kommt das zu schnell, aber das ist mir egal. Ich war schon an unserem ersten Abend sicher.«
Ich klappte das Kästchen auf und entdeckte einen Platinring mit einem funkelnden Rubin im Kissenschliff. Er war atemberaubend.
»Isabel«, flüsterte Marcus und nahm meine Hände. »Dies ist mein Herz. Ich gebe es dir. Ich würde für dich sterben. Heirate mich.«
Ich weiß noch, dass ich wie vor den Kopf geschlagen war, aber ich nickte heftig und brach in Tränen aus, als er mir den Ring an den Finger steckte, neben mir niederkniete und mich umarmte. Die übrigen Gäste schauten zu. Eine Frau - ich hatte sie anhand des Tommy-Hilfiger-Pullis, der Khakihosen und besonders der Turnschuhe als Amerikanerin erkannt - applaudierte und stieß einen Freudenschrei aus.
Welche Gefühle hatte ich mir von diesem Moment erhofft? Ich wusste es nicht. Von außen sieht man ihn ständig, in Kinofilmen und in der Werbung, stilisiert und kommerzialisiert. Man bekommt ihn von Schwestern und Freundinnen geschildert. Man weiß, wie es sich anfühlen sollte . Es ist einer der bedeutenden Momente im Leben, in einer Beziehung - ein Meilenstein, ein Abschnitt, ein wichtiger Augenblick. Aber ich konnte ihn nur so erleben, wie ich alles erlebe, als Beobachterin und Erzählerin. Ich bemerkte, dass
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