Huete dich vor deinem Naechsten
ich sie wieder öffnete, gingen die beiden kleineren Männer gerade hinaus. Ich hörte ihre Schritte auf der Veranda. Die hatten Nerven. Am helllichten Tag hier ein und aus zu gehen, weder sich noch ihr Auto zu verstecken. Waren sie dumm, oder war ihnen alles egal? Wussten sie, dass man das Grundstück von der Straße aus nicht einsehen konnte und auch nicht vom Nachbargarten? Sie mussten mein Apartment beobachtet haben und mir aus der Stadt gefolgt sein. Ich war zu geistesabwesend und zu naiv gewesen, um etwas zu merken.
Sekunden später hörte ich ein Auto vor dem Haus, und mein Herz begann wie wild zu hämmern. Ivan richtete sein Gewehr auf mich, aber diesmal schaute ich nicht weg. Ich wollte es ihm nicht zu leicht machen. Wenn er vorhatte, mich zu erschießen, musste er mir in die Augen sehen.
»Wer ist er?«, fragte ich. »Wie heißt er?«
Fred neben mir bewegte sich und stöhnte. Wieder lächelte Ivan mich seltsam an, und er kicherte leise.
»Sagen Sie es mir«, bohrte ich weiter. »Ich muss es wissen. Bevor Sie mich erschießen, möchte ich den Namen meines Ehemannes erfahren.«
Etwas Merkwürdiges passierte zwischen uns. Wir waren so unterschiedlich in unseren Erfahrungen und unserem Denken, dass wir genauso gut von zwei Planeten hätten stammen können. Aber in dem Augenblick vereinte uns unsere Wut über den Verrat. Er ließ das Gewehr sinken.
»Er heißt Kristof Ragan.« Nun lächelte er nicht mehr. »Er ist mein Bruder.«
Er legte einen Finger an die Lippen und machte: »Psst!« Dann zog er sich denselben Finger einmal über die Kehle und flüsterte dabei etwas auf Tschechisch. Ich verstand den Satz nicht, andererseits brauchte ich in der Situation wohl kaum einen Übersetzer.
Dann drehte er sich um und verließ das Haus schneller und leichtfüßiger, als man es einem Mann von seiner Statur zugetraut hätte. Ich wählte bereits den Notruf, als ich sein Auto vom Grundstück rasen hörte.
Als Linda nach Hause zurückkam, fühlte sie sich leer und erschöpft. Nach der langen, mühsamen Taxifahrt nach Uptown zum Apartment ihrer Schwester hatte sie von dem Polizisten im Flur erfahren müssen, dass sie Isabel um Minuten verpasst hatte. Beim Blick über seine Schulter stellte sie entsetzt fest, dass Izzys Wohnung vollkommen verwüstet war, aber man verwehrte ihr den Zutritt. Die beiden Detectives, die den Fall bearbeiteten, waren ebenfalls gegangen, um eine Spur zu verfolgen. Frustriert und verstört verließ Linda das Gebäude. Die Tendenz zum Grübeln hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Egal wie sehr sie dagegen ankämpfte, irgendwann gewann das Gefühl immer die Oberhand.
In ihrem Kopf braute sich ein Spannungsschmerz zusammen, als sie die Tür hinter sich schloss und Erik sah, der schon auf sie wartete. Irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck verstärkte ihre Anspannung noch. In ihrem Innern waren die Schuldgefühle dabei, die Angst niederzuringen. Sie ging auf ihn zu.
»Was ist?«, fragte sie ohne Einleitung und unabsichtlich gereizt.
»Linda, wir müssen reden.« Alle Alarmglocken schrillten, und sie dachte an ihr Rendezvous im Coffeeshop. Wie geschmacklos. Wie dumm. Wollte sie wirklich ihr Leben und ihre Ehe ruinieren? Vielleicht hatte Erik sie hineingehen oder herauskommen sehen. Vielleicht war irgendein Hausnachbar auf den bettelnden Ben vor der Tür aufmerksam geworden und hatte es Erik erzählt.
»Bitte«, sagte sie und legte ihre Handtasche ab. Sie ging zum Sofa und rollte sich darauf zusammen. Trotz der ernsten Lage entging ihr das Chaos im Wohnzimmer nicht. Unordentlich, aber immerhin sauber, auch wenn das nur der Putzfrau zu verdanken war, die wöchentlich kam. Seit wann hing Trevors Fußballtrikot über dem Sessel? War sie allein verantwortlich, hinter den Kindern herzuräumen? Waren die Kinder nicht alt genug, selbst Ordnung zu halten?
»Kümmer dich nicht um die Unordnung, Linda. Ich werde gleich aufräumen.«
»Ich habe nichts gesagt.«
Er atmete geräuschvoll durch die Nase aus, während er auf einem Hocker am Küchentresen saß und ein halb volles Glas Wasser in der Hand hielt. Sie konnte ihm nicht in die Augen schauen, seinem ernsten, liebenden Blick nicht standhalten. Sie hatte diesen Blick nicht verdient. Sie starrte auf ihre Hände. Ihre Fingernägel sahen schlimm aus; sie müsste dringend zur Maniküre.
»Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht«, fing Erik an. Er rutschte vom Hocker herunter, kam zu ihr und ließ sich aufs Sofa fallen. »Linda, ich habe eine
Weitere Kostenlose Bücher