Huete dich vor deinem Naechsten
große, vielleicht unverzeihliche Dummheit begangen.«
Als sie ihm ins Gesicht blickte, mischte sich Erleichterung in ihre Besorgnis. Sie sah ihn an, vielleicht zum ersten Mal seit Tagen. Ihr stressiges Leben drehte sich unablässig um die Kinder und das Loft, um ihre Arbeit und seine, um Mahlzeiten und Bring- und Abholdienste zu den verschiedensten Aktivitäten: Emma machte Kung Fu, Trevor lernte Geige. Manchmal ließen sie sich, wenn die Kinder endlich im Bett waren, einfach nur aufs Sofa fallen, um eine Stunde fernzusehen, oder sie lagen lesend im Bett, bis der eine einschlief und der andere das Licht ausmachte. An manchen Tagen hegte sie den Verdacht, das schmutzige Geschirr in der Spüle interessiere ihn mehr als ihr neues Kleid oder ihr neues Parfüm. Manchmal kam ihr der Gedanke, sie würde ihren Mann öfter sehen, wenn sie außerhalb arbeitete; dann könnte sie morgens ins Büro gehen und ihn nach getaner Arbeit wiedertreffen.
Sie betrachtete seine blonden Bartstoppeln, die meerblauen Augen, die hohen Wangenknochen, die Adlernase. Dieses Gesicht hatte ihr Herz gezähmt. Er strahlte von innen, es war wie ein lauer Sommertag am Strand.
»Worüber regst du dich eigentlich so auf?«, hatte er sie ganz am Anfang gefragt. Eine schicke Galerie in SoHo; er hatte sich um eine Viertelstunde verspätet. Es war nicht einmal Lindas Ausstellung. Aber sie hatte ihm auf der verregneten Straße eine Szene gemacht. »Ich weiß nämlich, dass es nicht wegen der Viertelstunde ist, die ich zu spät gekommen bin.«
Sie fühlte sich, als hätte er ihr einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gekippt. Beschämt und ernüchtert entdeckte sie ihr Spiegelbild im Schaufenster der Galerie. Sie erkannte kaum ihr eigenes Gesicht, ihre Körperhaltung. Ein paar Leute beobachteten sie; eine besonders dünne Frau mit Wein in einem kleinen Plastikbecher lächelte hämisch. Linda hatte nie verstanden, warum er nicht genau dort mit ihr Schluss gemacht hatte.
»Du bist zu jung, zu hübsch, zu gut, um so zu sein«, flüsterte er und nahm ihre Hände. In dem Moment wusste sie, dass er sie wirklich sah , dass er vielleicht der erste Mensch überhaupt war, der sie sehen konnte - anders als ihre Schwester. Das Gesicht, das sie für die anderen aufsetzte, das höfliche, sanfte Lächeln, die tadellosen Manieren, das brave Mädchen, das alles richtig machte - all das war ihm gar nicht aufgefallen. Wenn er sie ansah, schaute er ihr mitten ins Herz.
Keinen Monat später suchte sie sich eine Therapeutin, um herauszufinden, worüber sie sich eigentlich so ärgerte. Und dann galt es, sich aus dem Treibsand des eigenen Innenlebens zu befreien. In einer gemütlich eingerichteten Praxis an der Upper West Side stellte ihr eine mütterliche Psychologin mit grau gewelltem Haar und tiefem Dekolleté im Laufe der Zeit Fragen, die Linda am liebsten nie gehört hätte.
»Verurteilen Sie Ihre Mutter wirklich dafür, dass sie weiterleben wollte und alles Nötige getan hat, um sich und ihre Töchter zu retten? Hassen Sie Fred wirklich, weil er Ihre Mutter liebt? Sind Sie nicht vielmehr wütend auf Ihren Vater, der Sie im Stich gelassen hat und sich Ihnen schon lange vor dem Selbstmord emotional entzog? War es nicht einfach leichter für Sie, auf die Überlebenden wütend zu sein, weil Sie nicht wussten, wohin mit der Wut auf den Vater? Glauben Sie wirklich, er hätte Ihre Schwester mehr geliebt als Sie?«
Diesen unbequemen Fragen musste Linda sich stellen. Sie hätte diesen Schritt nie gewagt, wäre Erik nicht in ihr Leben getreten. Was wäre aus ihr geworden? Sie streckte einen Arm nach ihm aus, berührte sein Gesicht, ließ ihre Hand auf seine Schulter sinken.
»Was könnte es geben, das ich dir nicht verzeihen würde?«, fragte sie. Er ließ den Kopf hängen, bis sein Kinn seine Brust berührte.
»Linda …«
»Ich verzeihe dir«, sagte sie, »egal, was es ist.«
Sie zog ihn an sich und umarmte ihn. Sie hielt sich fest an ihm, dem Rettungsring in einem Meer aus Reue, Scham und Schuldgefühlen, die sie quälten, weil sie ihm das angetan, weil sie ihn verraten hatte. Es tut mir so leid, sagte sie in Gedanken, ich werde ihn nie wiedersehen.
»Linda«, sagte Erik und machte sich von ihr los. Was Linda in seinem Gesicht sah, gefiel ihr überhaupt nicht. Verzweiflung. Die dunkle Blume der Angst begann in ihr zu knospen.
»Erik«, keuchte sie, »was ist es?«
Nach meinem Notruf vergingen scheinbar nur wenige Sekunden - in denen ich Fred anbettelte, doch
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