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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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schuldig, aber ihr Selbstbild stellte ein gewisses Fluchtrisiko dar. Sie war wütend, sie war arrogant, man hatte sie hintergangen. Und nun wollte sie Antworten, war der Überzeugung, niemand könne diese schneller finden als sie selbst. Sie hatte ihn diesbezüglich nicht enttäuscht und sich bei der erstbesten Gelegenheit abgesetzt. Immerhin, das war Crowe aufgefallen, hatte sie gewartet, bis sich der Zustand ihres Stiefvaters stabilisiert hatte und ihre Familie eingetroffen war, bevor sie verschwand. Crowe schloss daraus, dass sie im Grunde ihres Herzens ein braves Mädchen war, obwohl sie sich nicht an alle Regeln hielt. Sie war geblieben, obwohl sie ohne Weiteres hätte fliehen können. Das nannte man ein »sprechendes Detail« - nicht in Polizeikreisen, sondern in der Literatur. Jene kleine Eigenheit, die Bände über eine Figur spricht.
    Das wusste Crowe aus einem der unzähligen Ratgeber zum Thema Schriftstellerei, die er gelesen hatte. Der Satz war bei ihm hängen geblieben. Er fand, dass er sich ebenso gut auf das echte Leben und die Polizeiarbeit anwenden ließ. Im Grunde genommen unterschieden die Tätigkeiten sich nicht so sehr. Man benötigte einen brennenden Ehrgeiz, jenen Zwang zu erkennen und zu durchschauen und zu erraten, man musste der eigenen Intuition folgen und sich von Ereignissen und dem Zufall leiten lassen. Man musste furchtbar neugierig auf andere Menschen sein und ihre Motive, schreckliche, wundervolle, geniale Dinge zu tun.
    Sein Blick wanderte zu Linda Book, die ihn beobachtete.
    »Sie ist zu Ihrem Apartment gefahren.«
    Linda nickte, als wäre sie wenig überrascht. »Sie besitzt einen Schlüssel.«
    Linda stand am Fenster, sie hatte sich die Arme um die Taille geschlungen, lehnte am Rahmen und sah hinaus. Crowe bemerkte, dass ihre Hände gepflegt und die Fingernägel praktisch kurz geschnitten waren. Sie trug einen auffälligen Diamanten - Kissenschliff, mindestens eineinhalb Karat. Unbewusst ballte sie die Hand immer wieder zur Faust, wobei sie sich am Kaschmirstoff ihres Mantels festklammerte. Crowe wusste, dass es sich um Kaschmir handelte, denn er hatte immer schon ein besonderes Talent gehabt, feine Stoffe auf Anhieb zu erkennen.
    Das einfallende goldene Nachmittagslicht verfing sich in Lindas Haar. Er erkannte Isabel Raine in Lindas Profil wieder, ihre Nase, ihre Stirn. Obwohl sie nicht die gleiche Haarfarbe hatten, konnte man erkennen, dass sie Schwestern waren. Isabel Raine sah aus wie in Milch getaucht, Linda Book wie von der Sonne geküsst. Beide waren schön, aber Linda wirkte weicher, irgendwie mehr von dieser Welt. Sie besaß etwas Mütterliches, dieses tiefe Wissen um die menschliche Natur, das man nur erwerben kann, indem man Windeln wechselt, Trotzanfälle aussitzt, Knie verarztet und Ängste vertreibt.
    »Wo will sie hin, Mrs. Book?«
    »Wo immer sie eine Antwort erwartet«, entgegnete Linda und schaute wieder aus dem Fenster. Crowe fühlte sich frustriert. Dieser Stoizismus schien in der Familie zu liegen.
    »Sie helfen ihr nicht«, sagte er. »Sie schützen sie nicht.«
    »Beides ist mir nie gelungen, Detective. Nie. Sie müsste es erst einmal zulassen.« Er beobachtete, wie ihr Blick zu ihrer Tochter hinüberwanderte, einem kleinen, dunkelhaarigen Mädchen, das auf einem unbequem aussehenden Stuhl hing und sich schlafend stellte. »Wenn ich wüsste, wohin sie will, würde ich es Ihnen sagen.«
    Crowes Handy klingelte wieder. Jez rief an.
    »Ich hab sie verloren«, brüllte sie über den Straßenlärm hinweg.
    »Was? Wie?«, fragte Crowe in so scharfem Ton, dass Linda und die Kleine ihn ansahen.
    »Die Menschenmassen aus der U-Bahn haben uns getrennt, und dann ist sie in den Waggon geschlüpft. Die Türen haben sich geschlossen, und weg war sie.«
    »Welcher Zug?«
    »Nach Uptown.«
    »Verdammt!«
    Linda Book warf ihm einen verärgerten Blick zu und schüttelte den Kopf. Das Mädchen lächelte, ein kurzes, amüsiertes Anheben der Mundwinkel. In dem Augenblick sah sie aus wie ihre Tante. Detective Crowe fing langsam an, diese Sippe von sturen, hyperintelligenten, arroganten Frauen zu hassen.
    »Was wirst du jetzt tun?«, fragte er Jez. Er klang fast ein bisschen beleidigt.
    »Was kann ich tun, Crowe?«
    »Versuch, sie an der nächsten Haltestelle zu schnappen.« Er hörte sie entnervt ausatmen.
    »Okay.« Sie klang, als hielte sie ihn für einen Idioten, dessen Plan niemals funktionieren konnte. Aber sie würde es dennoch versuchen. Er beendete das Gespräch. Wäre er

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