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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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Bildschirmrand meine Aufmerksamkeit erregte: Wo ist Marcus Raine? Ich klickte den Link an und gelangte auf eine Seite, die sich mit in Vergessenheit geratenen New Yorker Kriminalfällen befasste.
    »Im Fernsehen lässt der ungelöste Fall den Cop bis zu seiner Pension nicht mehr los - und oft auch danach nicht. Im wirklichen Leben verschwinden Menschen, ohne dass aufgeklärt wird, was ihnen zugestoßen ist«, las ich auf der recht provisorisch wirkenden Seite. »Ein Mensch geht los, um kurz etwas einzukaufen, und wird nie wieder gesehen. Niemand interessiert sich dafür, aber die Angehörigen bleiben hilflos zurück - gequält von Angst, Verlustschmerz und unbeantworteten Fragen.«
    Grobkörnige Fotografien wurden ein- und wieder ausgeblendet - Schülerporträts, Schnappschüsse, Urlaubsfotos, gestellte und zufällige Bilder.
    Ich klickte auf den Namen Marcus Raine und landete bei dem Foto, das Detective Crowe mir gezeigt hatte, außer dass man hier die Freundin abgeschnitten hatte. Sein Lebenslauf - er war vom Tellerwäscher zum Millionär aufgestiegen, war verwaist und von einer Tante in der Tschechoslowakei großgezogen worden, dann in die USA ausgewandert, hatte studiert und ein Vermögen gemacht - glich dem meines Mannes bis aufs Haar.
    Camilla Novak, eine befreundete Emigrantin, gab an, Raine habe sich in den Wochen vor seinem Tod seltsam verhalten. Er habe einen paranoiden Eindruck gemacht, verschiedene Sicherheitsschlösser an seiner Tür angebracht und sei nur noch ans Telefon gegangen, wenn sie es einmal klingeln ließ, auflegte und wieder anrief. »Er fühlte sich verfolgt, wollte mir aber nicht sagen, warum und von wem. Ich machte mir Sorgen um ihn, denn in seiner Familie gab es Fälle von psychischen Erkrankungen«, sagte Novak. »Aber ich habe nie gedacht, er könne in Gefahr sein.« Die Webseite gab eine Nummer an. Falls Sie Informationen für uns haben, wählen Sie 1-121-COLD-CASE.
    Aus einer Laune heraus gab ich den Namen Kristof Ragan in die Suchmaschine ein. Nichts von Interesse erschien, nur eine Liste von Schulen und Firmen, die »Kristof« oder »Ragan« im Namen trugen. Ich blätterte mich hoffnungsvoll durch die Seiten, aber meine Verzweiflung wuchs mit jedem nutzlosen Verweis. Schließlich hatte ich das Ende der Liste erreicht. Und da verlor ich zum ersten Mal die Nerven.
    Im Kinderzimmer meines Neffen, zwischen Star-Wars-und Skater-Boy-Figuren, Stofftieren, Sportpostern an Decke und Wänden und einem Hochbett, das größer war als manche der Wohnungen, in denen ich gelebt hatte, legte ich meinen Kopf auf die Schreibtischplatte und fing hemmungslos zu weinen an. In einer einzigen, mächtigen Welle kamen die ganze Wut, der Kummer und die Hilflosigkeit in mir hoch. Ich ertrank darin. Noch vor zwei Tagen hätte ich mich an meinen alles andere als perfekten Mann gewendet, der mir mit seinem Intellekt und seiner Ruhe ein Fels in der Brandung gewesen wäre. Ich hätte die Arme nach ihm ausgestreckt, und er hätte mich aus meinem Gefühlschaos herausholt.
    »Isabel, entspann dich«, hätte er gesagt. »Mach deinen Kopf frei.«
    Und dann hätte sich der Nebel, der sich bei Stress oder Angst über meinen Verstand legte und jeden vernünftigen Gedanken verhinderte, langsam verzogen.
    »Es gibt für jedes Problem eine Lösung. Man findet immer einen Weg«, pflegte er zu sagen. Und ich hörte ihm zu und wusste, er hatte recht.
    Ich vermisste meinen Mann so sehr, dass ich am liebsten in Trevors Bett gekrochen wäre und mich unter der Decke versteckt hätte. Mein bester Freund, mein Mann, mein Geliebter war mindestens ein Lügner, schlimmstenfalls sogar ein Krimineller. Dennoch brachte mich der Gedanke, ohne ihn weiterleben zu müssen, fast um. Obwohl unsere Ehe nicht perfekt gewesen war und er mich manchmal verletzt hatte, liebte ich ihn von ganzem Herzen und hatte ein Urvertrauen in ihn, selbst wenn das seit seiner Affäre angeknackst war.
    Aus irgendeinem Grund musste ich an die Unterhaltung mit Detective Crowe denken. Ein liebendes Herz vergibt alles?, hatte er verbittert gefragt. Ein liebendes Herz akzeptiert und schaut in die Zukunft, war meine Antwort gewesen. Vielleicht hatte mein Herz zu viel akzeptiert, vielleicht hatte es sich das, was es zum Überleben brauchte, selbst geschaffen.
    Mein Handy neben dem Computer fing zu vibrieren an und rutschte über die glatte, weiße Schreibtischoberfläche. Ich sah Eriks Namen auf dem Display, zögerte kurz und nahm schließlich den Anruf an, ohne mich zu

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