Huete dich vor deinem Naechsten
allein gewesen, hätte er irgendwo gegengetreten oder laut geflucht, um Dampf abzulassen. Aber es gelang ihm, die Fassung zu bewahren.
»Ich habe eine Idee.« Das Mädchen sah ihn an, als wartete er nur auf einen Tipp.
»Wirklich?«, fragte er in sarkastischem Ton. Er sah Ärger über ihr kleines Gesicht huschen - Ärger, nicht Scham, was ihm Respekt einflößte. Er ließ die Kleine nicht aus den Augen, aber sie drehte sich zu ihrer Mutter um, so als verdiente er es nicht, dass man mit ihm sprach.
»Daddy soll nach Hause fahren und am Computer nachsehen«, erklärte sie. »Du kannst das Schnüffelprogramm benutzen, das du auf unserem Computer installiert hast, um rauszufinden, auf welchen Webseiten sie war. So bekommst du vielleicht raus, wo sie hinwill.«
»Welches Schnüffelprogramm?«, fragte Linda mit übertrieben hochgezogenen Augenbrauen und weit aufgerissenen Augen.
»Jaja«, sagte Emily. »Als hätten wir nichts gemerkt, Mom.«
»Hey, das ist eine gute Idee!«, meinte Crowe überrascht.
Emily Book verdrehte die Augen. »Pfff.«
Fünf Minuten später war Erik Book auf dem Weg nach Downtown. Linda wirkte unruhiger und rieb sich die Schläfen. Anscheinend fragte sie sich, ob sie ihrer Schwester half oder schadete.
Als sie Kinder waren, vor dem Tod ihres Vaters - danach waren sie nie wieder Kind -, hatten alle Izzy für das schwierigere Mädchen gehalten. Wäre Izzy als Erste auf die Welt gekommen, sagte Margie gern, hätte es kein zweites Kind gegeben. Sie hatte Koliken, schlief nicht durch, verweigerte das Essen und den Mittagsschlaf. Margie hatte es so oft erzählt, dass es zu einer Art Familienlegende wurde.
Aber Linda kannte die Wahrheit. Ja, Izzy war ungestüm, wo Linda gehorcht hatte. Izzy riss die Klappe auf, wo Linda schwieg. Izzy war taktlos, Linda diplomatisch. Alles in allem wurde Izzy für die Rebellin gehalten und Linda für einen Engel. Doch für Linda war klar, wer in Wahrheit das brave und wer das böse Mädchen war.
Wenn sie Emily betrachtete, erkannte sie die unschuldige Seele ihrer Schwester wieder. Auch Trevor trug die Überzeugung in sich, das Gute werde stets über das Böse siegen, und seine Comics und die Legende von Star Wars befeuerten diesen Glauben nur. Für ihn ließ sich in jeder Situation eindeutig zwischen richtig und falsch unterscheiden. Er drückte sich an der Tür herum und rang mit seinem schlechten Gewissen, mit dem nagenden Gefühl, dass es in diesem Fall möglicherweise ein Fehler gewesen war, sich an die Regeln zu halten. Er sah verwirrt aus. Sie wollte ihm sagen, dass im Lauf seines Lebens die Verwirrung zunehmen würde, dass die Dinge sich niemals wieder so klar und eindeutig darstellten wie heute. Früher war sie wie er gewesen, so sicher und selbstgerecht. Der arme Fred konnte ein Lied von ihren enormen Ansprüchen singen. Sie wollte ihrem Sohn sagen, das Leben bestehe nun einmal aus lauter Grautönen. Aber das würde warten müssen.
»Du hast das Richtige getan, Trev«, sagte sie, um ihn zu trösten. »Izzy braucht jetzt unsere Hilfe, auch wenn sie das nicht weiß.«
Ihr Sohn nickte unsicher und schlang sich die Arme um den dünnen Leib. Emily warf ihm einen finsteren Blick zu.
»Petze«, zischte sie. »Heulsuse!«
»Halt die Klappe«, sagte Trevor, und seine Stimme überschlug sich. » Du hattest die Idee mit dem Computer!«
»Emily, hör auf«, sagte Linda.
»Wie bitte?«, fragte Emily. » Er soll aufhören!«
Sie fingen an zu zanken und redeten wild durcheinander. Das machten sie immer so, wenn es anstrengend wurde. Es hörte sich furchtbar an.
»Genug!«, befahl Linda und hob die Stimme. Die Kinder verstummten und sahen sie an. Emily ging zu ihrem Stuhl und ließ sich theatralisch darauf sinken, Trevor verzog sich schmollend in eine Ecke.
»Ich brauche Ruhe«, sagte Linda sanft, »bitte. Ich muss nachdenken.«
Sie wollte sauer auf ihre Schwester sein, die sich wieder einmal abgesetzt hatte. Aber sie schaffte es nicht, so wie man nicht auf eine Katze sauer sein kann, weil sie Möbel zerkratzt, oder auf einen Hund, weil er Schuhe zerkaut. Isabel war einfach so.
Linda hatte von einem Experiment gelesen, bei dem Versuchspersonen einem Menschen im Nebenraum elektrische Stromstöße versetzen sollten. Heraus kam, dass die meisten Leute sich nicht weigerten, auf den Knopf zu drücken, egal, wie laut die Schmerzensschreie des Gefolterten im Nebenzimmer wurden. Sie befolgten die Anweisungen der Autoritätsperson. Linda wusste, dass sie zu diesen
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