Huete dich vor deinem Naechsten
melden.
»Iz, tu das nicht«, sagte er. »Es muss nicht so laufen. Komm zurück, dann finden wir gemeinsam eine Lösung.«
Ich schwieg.
»Geh wenigstens zum Anwalt. Du kennst seine Adresse, ja? John Brace und Partner, Park Avenue. Er wird wissen, was zu tun ist. Der Detective hat gesagt, er muss dich als Verdächtige betrachten, wenn du nicht freiwillig zurückkommst. Als Verdächtige , Iz! Mach es nicht schlimmer, als es ohnehin schon ist.«
Ich drückte auf Gespräch beenden und legte das Handy wieder hin. Eine Sekunde später brummte es erneut. Linda. Ich verfolgte, wie das Handy zur Tischkante wanderte und zu Boden fiel. Irgendwann hörte es zu vibrieren auf.
Als ich aufstand und hinausgehen wollte, fing es wieder an. Mein kleines Handy, das silberne, schwere Ding, glatt und warm wie ein Handschmeichler, war mir immer ein Trost gewesen. Ständig hielt ich es in der Hand, um von den wichtigsten Menschen in meinem Leben nicht mehr als einen Knopfdruck entfernt zu sein. Die vielen Stimmen - meine Schwester, meine Mutter, mein Mann -, die ebenso laut waren wie meine eigene, manchmal sogar lauter. Ich ließ sie alle dort zurück.
Als ich einen alten Mantel aus dem Schrank meiner Schwester nahm und das Loft verlassen wollte, kam mir ein Gedanke. Ich lief in Eriks Arbeitszimmer und riss den Aktenschrank auf, der nie abgeschlossen war. Schnell hatte ich die Reisepässe der Familie Book gefunden - und meinen. Letzten Sommer waren Linda und ich spontan mit den Kindern nach Mexiko gefahren, und in dem Durcheinander hatten wir unsere Pässe vertauscht. Lindas Pass befand sich in meinem Apartment, oder zumindest hatte er sich dort befunden, und sie besaß meinen. Erleichtert und euphorisch steckte ich ihn ein. Manchmal lächelte einem das Schicksal zu, selbst wenn es sich kurz zuvor noch so grausam gezeigt hat. Grady Crowe hasste Krankenhäuser - nicht dass irgendjemand sie besonders mochte. Aber er hatte ganz eigene Gründe, sie zu verabscheuen. Noch nie hatte er jemanden im Krankenhaus sterben sehen, und die Gegenwart von Kranken machte ihm nichts aus. Das Krankenhaus erinnerte ihn nicht an seine eigene Sterblichkeit.
Er hatte nur etwas gegen die Neonröhren, die öde Einrichtung, den Kantinengeruch. Diese Aspekte verletzten seinen Sinn für Ästhetik, sie machten ihn nervös und unruhig. Es ärgerte ihn, dass man kranke Menschen nicht besser unterbrachte. Würden sie sich nicht gleich besser fühlen, wenn sie nicht ständig den grauen Linoleumboden und schmutzig weiße Wände anstarren müssten? Wenn sie einander nicht in diesem unvorteilhaften Neonlicht sehen müssten? Sollte man auf derlei Details nicht mehr Wert legen, wo doch manche Menschen ihre letzten Tage hier verbrachten? Sollten eine schadhafte Tapete und ein Bettrahmen aus Metall das Letzte sein, was ein Sterbender sieht?
Sein Handy klingelte.
»Sie ist unterwegs«, sagte Jez am anderen Ende der Leitung. Sie klang atemlos, und im Hintergrund hörte er eine Sirene.
»Läufst du?«, fragte er.
»Ja. Sie ist mit dem Taxi zum Apartment ihrer Schwester gefahren. Ich habe hier rumgesessen und auf sie gewartet. Jetzt ist sie zu Fuß unterwegs, und das ziemlich schnell. Ich dachte, sie nimmt wieder ein Taxi, aber da habe ich mich geirrt.«
»Wo steht das Auto?«
»Im Halteverbot gegenüber vom Haus der Books.«
»Wo will sie hin?«
»Keine Ahnung«, entgegnete Jez. Sie sprach langsam und deutlich, so als redete sie mit einem Kleinkind. »Deswegen laufe ich ihr nach.«
»Halt mich auf dem Laufenden«, sagte Crowe und warf einen Blick zu Linda Book und den Kindern hinüber, die traurig oder gelangweilt oder beides waren. Er hatte sich zu ihnen in den Wartebereich gesetzt und sie ausgefragt. Vergeblich.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte Jez.
»Das weiß ich noch nicht.«
»Dann hältst du mich bitte auch auf dem Laufenden.«
Er hatte den ersten schlauen Einfall seit vierundzwanzig Stunden gehabt und Jez vor dem Krankenhaus positiert. Er konnte Isabel Raine nicht festnehmen; es war ihm klar, dass er, juristisch betrachtet, kein Recht dazu hatte. Aber einer von ihnen konnte sich an ihre Fersen heften und herausfinden, wohin sie wollte. Vielleicht würde Isabel sie zu ihrem Mann führen. Vielleicht würden sie entdecken, dass Isabel verfolgt wurde - von den Schlägertypen beispielsweise, die sie angeblich überfallen und beinahe ihren Stiefvater umgebracht hatten.
Isabel Raine verfügte über einen Fluchtreflex. Eigentlich hielt Crowe sie nicht für
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