Huete dich vor deinem Naechsten
zum Sofa und setzte sich, stützte das Kinn auf die Hand und betrachtete sie. Es hatte eine Zeit gegeben, als er sich vorstellen konnte, sie zu lieben. Aber als sie sich ihm widerstandslos hingegeben und ihren Zweck erfüllt hatte, war seine Leidenschaft schnell verflogen.
Er hatte Marcus Raine bei Red Gravity kennengelernt, wo sie beide als Programmierer arbeiteten. Obwohl sie aus demselben Land stammten und nur wenige Kilometer voneinander entfernt aufgewachsen waren, wollte Marcus Raine sich nicht mit ihm anfreunden - mit ihm nicht und mit niemandem sonst. Hinter seinem Rücken wurde Raine von den Kollegen ausgelacht; sie witzelten, er schalte sich abends einfach ab und bleibe bis zum nächsten Morgen an seinem Schreibtisch sitzen. Er war da, wenn die anderen kamen, er war da, wenn sie abends gingen. Anscheinend hatte er fünf identische Outfits - schwarze Hose, schwarze Schuhe von Rockport, Oberhemd in einem undefinierbaren Grau- oder Braunton. Die Rezeptionistin führte eine Liste - montags trug er Braun, dienstags Dunkelgrau, mittwochs Schiefergrau, donnerstags Dunkelbraun, freitags Stahlgrau. Das Wetter schien er zu ignorieren, denn er trug immer denselben schwarzen, leichten, dreiviertellangen Mantel, bei Regen und bei Sonnenschein, sommers wie winters. Wenn es sehr kalt wurde, setzte er eine Strickmütze auf, bei unerträglicher Hitze ließ er den Mantel zu Hause.
Er selbst lachte nie mit den anderen und war kaum geselliger als Marcus Raine. Es gehörte zu seinem Plan, zu seiner Unsichtbarkeit. Er war stets freundlich genug, um nicht am Rand zu stehen, aber er kam niemandem zu nah und gab nichts von sich preis. Aus diesem Grund konnte er sicher sein, dass sich keiner seiner Kollegen bei Red Gravity an seinen Namen erinnern würde. Manchmal vergaß er ihn selbst und war sich kaum des Namens bewusst, den seine Mutter ihm gegeben hatte. Jetzt, viele Jahre später, schien der Name Kristof Ragan einem Fremden zu gehören, der ein sinnloses Leben geführt hatte und in Vergessenheit geraten war.
Die Witze über Marcus Raine waren von einem tiefen Ressentiment getragen. Marcus war vor den meisten anderen eingestellt worden. Er strich ein geringes Gehalt ein und hatte zum Ausgleich einen Anteil an der Firma bekommen. Als sie an die Börse ging, wurde Raine reich. Die Firma bedankte sich für seine Loyalität und seinen Einsatz, indem sie sein Gehalt anhob. Den Gerüchten zufolge - und in einer kleinen Firma kursieren immer viele Gerüchte - verdiente er fast so viel wie der Vorstand. Er beneidete Marcus Raine nicht um den Erfolg; er wurde nicht wütend oder neidisch. Er wurde neugierig. Wie fühlte es sich an, Marcus Raine zu sein?
Wenn Isabel arbeitete, hatte sie immer denselben Gesichtsausdruck. Sie musste dazu nicht am Computer sitzen. Ihre Augen nahmen einen entrückten Ausdruck an, und sie legte nachdenklich den Kopf schief. Er konnte fast die Synapsen in ihrem Hirn feuern hören, während sie versuchte zu verstehen . Sie zog sich in sich selbst zurück, um zu fantasieren, zu verstehen, sich in die Lage eines anderen zu versetzen und darüber zu schreiben. Er fand das faszinierend, aber fremd war es ihm nicht. Er hatte sich ebenfalls nach diesem Zustand gesehnt, wenn auch aus anderen Gründen. Sein ganzes Leben lang.
Camilla war es gewesen, Raines Freundin, die ihn schließlich handeln ließ. Offenbar hatte Raine eines Tages sein Mittagessen zu Hause vergessen. Er brachte jeden Tag das Gleiche mit. Irgendeine Wurst auf Vollkornbrot, dazu einen Apfel. Er trank Wasser aus dem Spender, aus einem Becher, der auf seinem Schreibtisch stand und den er nach Gebrauch in der Gemeinschaftsküche spülte. Raine war so zuverlässig wie ein alter Wecker, er war genügsam und berechenbar. Er hatte sich Raine niemals an der Seite einer Frau wie Camilla vorstellen können. Sie kam in einem dünnen, geblümten Kleid ins Büro gerauscht, ungewöhnlich schlank und sehnig, und ihre unglaublich langen Beine endeten in gefährlich hohen Stöckelschuhen - roten Stöckelschuhen. Sie strahlte eine knisternde Energie aus, hatte weißblondes Haar und eine helle Stimme, die in seinen Ohren wie Vogelgezwitscher klang.
»Kann ich das hier für Marcus Raine abgeben?«, fragte sie und hielt eine braune Papiertüte hoch.
»Oh, ich kann ihn anrufen«, sagte die Empfangsdame mit unverhohlener Begeisterung. Sie wollte ihn unbedingt im Beisein seiner Freundin erleben. »Wie ist Ihr Name?«
Sie schaute sich zögerlich um. »Camilla«,
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