Hueter der Daemmerung
du dir ganz sicher?«, fragte ich und blickte ihm forschend ins Gesicht. »Auch wenn wir nie mehr als Freunde sein werden?«
Seb sah mich unverwandt an, sein Blick war vollkommen ernst. »Ja, ich bin mir ganz sicher«, sagte er. »Ich werde dein Bruder sein, wie wär’s damit?«
Er meinte es ernst. Erleichtert, dass er mich verstand, atmete ich auf- noch erleichterter war ich allerdings darüber, dass er weiterhin bleiben wollte. »Bruder … klingt richtig, richtig gut.«
»Dann hast du jetzt einen«, sagte er. »Bis an dein Lebensende, wenn du willst.«
»Danke«, sagte ich sanft. Und obgleich wir uns gerade erst begegnet waren, wusste ich, dass ich es wahrscheinlich wirklich wollte – schon jetzt fühlte ich mich Seb so verbunden. Mit zittrigen Fingern strich ich mir die Haare aus dem Gesicht. Plötzlich sprudelten die Worte nur so aus mir heraus. »Seb, es gibt so vieles, was ich dich fragen muss. Ich habe mir solche Sorgen gemacht …«
Seb hatte halb auf seinem Kissen gelegen. Jetzt setzte er sich auf, schlagartig beunruhigt. »Du hast Sorgen?«
»Eher Angst«, bekannte ich. »Dein Engel. Kannst du ihn in dir drin spüren? Ich meine … anwesend, aber unabhängig von dir. Ohne deine Gedanken zu teilen, als würde er eigenständig denken.«
Mit gerunzelter Stirn sah er mich an. »Schon seit Langem nicht mehr«, sagte er. »Aber als ich jünger war schon.«
Ich saß auf dem Rand meines Sofakissens. »Was ist damals passiert?«
Sebs Haltung war lässig: Eine Hand ruhte auf seinem Knie, mit der anderen stützte er sich auf dem Sofakissen ab. Trotzdem bemerkte ich, dass hinter seiner gelassenen Fassade die Gefühle brodelten – und auf einmal wusste ich, dass ich die Einzige auf der Welt war, der er jemals davon erzählen würde. »Vielleicht hast du ja gestern schon einiges davon mitbekommen, als du mich berührt hast«, sagte er. »Als ich elf Jahre alt war, wurde ich wegen Diebstahls verhaftet.«
»Ja, habe ich«, gab ich zu. »Und sie haben dich in ein …« Ich sprach nicht weiter.
»Hier in Mexiko nennt man so was ein reformatorio.« Seb schnitt eine Grimasse. »Sie haben immer gesagt, wir sollten dankbar dafür sein – denn dort hätten wir Gelegenheit, uns zu bessern.«
Bessern. Als ich daran dachte, was ich von dieser Jugendstrafanstalt gesehen hatte (nur zwei Stunden am Tag fließendes Wasser, brutale Prügel, Jugendliche, die nachts an ihr Bett gefesselt wurden), schnürte es mir die Kehle zu. Das war schon mehr als Ironie.
Seb fuhr mit dem Fingernagel über einen Faden in seiner Jeans. »Ich hab dort viel mit angesehen«, sagte er endlich. »Sachen, die viel schlimmer waren, als eine Brieftasche zu klauen, finde ich.« Wieder lächelte er, doch diesmal lag ein harter Zug um seine Lippen. »Ich habe einen Jungen gesehen, der versucht hat abzuhauen. Sie haben ihn wieder eingefangen – und an einen Baum gebunden. Ihn tagelang sich selbst überlassen. Ohne Essen. Ohne Wasser. Keiner von uns durfte ihm helfen.«
Unvermittelt hatte ich ein Bild vor Augen und wünschte inständig, es wäre mir erspart geblieben. Oh Gott, die Augen des Jungen. Sein Gesicht. Ich bekam kaum ein Wort über die Lippen. »Was … was ist mit ihm passiert?«
Seb zog die Schultern hoch und machte ein ratloses Gesicht. »Nach einer Woche war er verschwunden und wir haben ihn danach nie wieder gesehen.«
»Aber … ist das denn überhaupt legal? Wieso dürfen die das? Hättest du nicht zur Polizei gehen können, nachdem du wieder draußen warst?« Vor lauter Entsetzen war meine Stimme schrill geworden.
Sebs Augenbrauen hoben sich – überrascht und beinahe ein bisschen mitleidig, dass ich das für eine Lösung hielt. »Es würde sowieso niemanden kümmern«, sagte er. »Wir waren Diebe und Ausreißer – Straßenjungen, ohne Familie.«
Erschüttert schlang ich die Arme um meine Knie. Über unseren Köpfen konnte ich die anderen hören, die immer noch beim Schießtraining waren. Die Fitnessgeräte, die um uns herumstanden, wirkten seltsam normal, als gehörten sie zu einem vollkommen anderen Leben, als zu dem, das Seb geführt hatte. Was vermutlich auch stimmte.
»Wie bist du da rausgekommen?«, fragte ich.
Er zuckte mit den Schultern. »An meinem Bettgestell gab es ein loses Metallstück. Ich habe es abgebrochen und an der Wand geschärft, wenn niemand in der Nähe war. Es hat Monate gedauert, aber endlich war es scharf genug. Ich habe einen Aufseher damit bedroht und so habe ich es nach draußen
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