Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hueter der Daemmerung

Hueter der Daemmerung

Titel: Hueter der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L. A. Weatherly
Vom Netzwerk:
geschafft.
    Dann bin ich losgerannt, so schnell ich konnte«, fügte er hinzu und verzog den Mund. »Mein Tempo war echt olympiareif.«
    Ich starrte ihn an und fand es erstaunlich, dass er nicht den Verstand verloren hatte und sogar noch Witze darüber machen konnte. Ich habe einen Aufseher damit bedroht. Die Worte überraschten mich nicht. Nichtsdestotrotz wusste ich, dass Seb im Grunde seines Herzens ein guter, ja sogar sanftmütiger Mensch war. Fassungslos dachte ich an mein eigenes Leben, als ich elf Jahre alt gewesen war. Was für ein Gegensatz! Trotz aller Probleme hatte ich unglaubliches Glück gehabt, ohne es auch nur zu ahnen.
    »Hast du den Aufseher verletzt?«, fragte ich.
    Seb schüttelte den Kopf. »Nein, er war ein Angsthase. Und ich habe vermutlich gewirkt, als sei ich zu allem entschlossen. So als brauchte man mir mit einem ›Nein‹ nicht zu kommen.« Milde Belustigung huschte über sein Gesicht, als er sich daran erinnerte.
    »Hättest du ihn denn verletzt?«
    Die Belustigung verflüchtigte sich. Und als sich unsere Augen trafen, war mir klar, dass Seb mich nicht belügen würde -niemals. »Ja«, sagte er ruhig. »Ich hätte alles getan um da rauszukommen. Und damals habe ich die Menschen gehasst. Dafür, was sie einander antaten – und dafür, was sie mir angetan hatten.«
    Mein Blick wanderte zu einer kleinen Narbe auf seinem Arm, genau unterhalb des T-Shirt-Ärmels: Ein tiefes schartiges Loch, das sich weiß von seiner gebräunten Haut abhob. Ungefähr so groß und so rund wie der Durchmesser einer Zigarette. Mir wurde kalt ums Herz. Oh Gott, war das dort passiert?
    Seb bemerkte meinen Blick und sah selber auf die Narbe hinunter. »Nein – das war der Freund meiner Mutter, als ich noch klein war.« Gleichmütig strich er darüber. »Meine Mutter hatte keinen guten Geschmack in Sachen Männer.«
    In seinem Tonfall lag keine echte Bitterkeit, obwohl ich spürte, wie sehr er den Freund gehasst hatte. Flüchtig streifte mich der Gedanke an seinen Engelsvater, aber jetzt schien nicht der richtige Zeitpunkt, um nach ihm zu fragen. Ich schluckte. »Seb …« Ich konnte den Satz nicht beenden, mir fehlten die Worte.
    Er bemerkte mein Gesicht und ich sah, dass er es augenblicklich bereute, mich damit belastet zu haben. Er legte seine Hand auf meine und hielt sie sanft fest. »Querida, ist schon gut«, sagte er. »Mir hat schon seit Jahren niemand mehr wehgetan.«
    Ich ertrug die Vorstellung kaum, dass ihm überhaupt jemand wehgetan hatte. Als Antwort drückte ich kurz seine Hand, bevor ich sie wieder wegzog und mir wünschte, dass mein verräterisches Herz bei seiner Berührung keinen Satz gemacht hätte. »Hey, ich denke, du bist mein Bruder«, sagte ich in dem Versuch, einen Witz zu reißen. »Brüder halten nicht Händchen mit ihren Schwestern, und sie nennen sie auch nicht querida.«
    Seb grinste, seine braunen Augen begannen zu funkeln. »Doch, tun sie«, sagte er. »Andauernd.«
    »Tja, dann scheinen die Dinge in Mexiko wohl anders zu liegen«, sagte ich. »In Amerika tun sie das nämlich auf gar keinen Fall. Und ich bin Amerikanerin.«
    »Aber jetzt bist du in Mexiko«, wandte er ein.
    »Richtig. Und du willst mir weismachen, dass die Jungs hier mit ihren Schwestern Händchen halten und sie ›Liebling‹ nennen.«
    »Oh ja. Wir Mexikaner sind sehr freundlich.«
    Da lachte ich, ich konnte nicht anders.
    Seb feixte. Ich merkte, wie er sich freute, dass ich wieder lächelte, und tief in mir regte sich ein Gefühl, das ich gar nicht analysieren wollte. Ich wusste nur, dass ich sehr glücklich darüber war, dass Seb jetzt zu meinem Leben gehörte.
    Von allem anderen einmal abgesehen war es wunderbar, wieder einen Freund zu haben – außer Alex. Die ganzen letzten Wochen war ich mir wie eine Aussätzige vorgekommen.
    »Und was war jetzt mit deinem Engel?«, fragte ich.
    Ein paar weiche braune Locken hingen Seb in die Stirn. Ungeduldig strich er sie zurück. »Nachdem ich aus dem reformatorio geflohen war, habe ich wieder auf der Straße gelebt. Und drei oder vier Monate lang …«, er schüttelte den Kopf, »… war ich jemand, den du nicht gerne kennen würdest. Ich hasste Menschen, ich wollte sie verletzen. Alles was ich wollte, war, ein echter Engel zu sein, sodass mir niemand mehr etwas anhaben könnte. Ich habe mich pausenlos geprügelt – ich habe es direkt darauf angelegt, dass mich die Leute schräg ansahen, damit ich auf sie losgehen konnte. Ich habe Fensterscheiben eingeschlagen, Autos

Weitere Kostenlose Bücher