Hueter der Daemmerung
Erfahrung zu bringen, oder nicht, würden wir in den Torre Mayor vordringen und irgendeine Art von Anschlag auf das Konzil verüben müssen.
Wir. Denn im Geist bezog ich mich in den Angriff mit ein. Ich würde rechtzeitig lernen, meine Aura zu verändern. Und wenn ich dabei draufging.
»Woran denkst du?« Alex war etwas von mir abgerückt und betrachtete mich mit einem nachdenklichen Lächeln. »Du siehst aus, als würden eine Million Gedanken hier drin herumwirbeln.« Er klopfte mir an die Stirn.
Ich schmunzelte. »Eine Million vielleicht nicht gerade.« Ich würde Alex bestimmt nichts davon erzählen. Er war sowieso schon ganz krank vor Sorge, da war es sinnlos, ihn noch zusätzlich zu belasten, bevor ich meine Aura nicht gezielt tarnen konnte. Ich war nur froh, dass er kein Gedankenleser war -denn dann hätte er innerhalb von zwei Sekunden erfasst, was ich vorhatte, so wie Seb. Ich dachte an den festen Blick, den Seb mir unten im Keller zugeworfen hatte. Wir hatten noch nicht laut über das Thema gesprochen – es schien nicht wirklich nötig zu sein. Wir wussten beide genau, was der jeweils andere fühlte.
Ohne, dass ich es gewollt hätte, erschien plötzlich sein Bild vor meinem inneren Auge. Er lag auf seinem Bett und las – die Szene stand mir derart lebhaft vor Augen, dass ich sogar den spanischen Titel auf dem Bucheinband erkennen konnte. Das braune Haar fiel ihm lockig in die Stirn, was ihn, wie ich wusste, wahnsinnig machte. Der Anblick ließ mich schmunzeln. Er sah so vertieft aus. So schnell, wie es gekommen war, wehrte ich das Bild wieder ab. Ich weiß nicht, wann ich zum ersten Mal bemerkt hatte, dass ich spüren konnte, wo Seb sich gerade aufhielt, wenn er nicht in meiner Nähe war – irgendwie kam es mir ganz natürlich vor, zu wissen, wo er steckte.
Warum dachte ich schon wieder über Seb nach? Verärgert schob ich ihn weg und studierte im schwachen Schein der Straßenlaternen Alex’ Gesicht. Seine kräftigen, schönen Züge. Ich küsste seine Nase. »Du hast eine sehr hübsche Nase, bist du dir dessen bewusst?«
Zum ersten Mal seit Tagen lachte er, was mich wärmte wie ein heißes Getränk an einem kalten Winterabend. »Nein, das kann ich nicht behaupten. Ich glaube, meine Nase hat bisher noch nie ein Kompliment bekommen.«
»Die Ärmste. Dabei hat sie massenhaft Komplimente verdient.« Ich küsste sie noch einmal.
Grinsend schüttelte Alex den Kopf. »Meine Nase und ich danken dir. Warum nur habe ich das Gefühl, dass du versuchst, mich abzulenken? Stell dir vor, ich habe durchaus bemerkt, dass du mir nicht verraten hast, woran du gerade gedacht hast.«
»Vielleicht will ich ja nicht. Vielleicht bin ich ja gerade damit beschäftigt, einen Haufen höchst geheimer, privater Gedanken zu wälzen.«
»Hmm, sehr geheimnisvoll …« Als Alex mich wieder an sich zog, drang ein Geräusch aus dem Haus, als würde jemand rufen.
Erschrocken schauten wir uns an. Dann ertönte es erneut und diesmal bestand kein Zweifel: Es war Sams Stimme, die da brüllte. »Leute! He, Leute, kommt her! Alle mal herkommen, sofort! «
Im Fernsehen war ein Reporter zu sehen, der in schnellem Spanisch in die Kamera sprach. Er stand mit dem Rücken zu einem breiten Konferenztisch, um den zwölf gut gekleidete Menschen saßen, deren Gesichter aber nicht klar zu erkennen waren. Sam saß vornübergebeugt auf dem Sofa, die muskulösen Unterarme auf die Oberschenkel gestützt. »Sie reden über el Consejo de los Angeles«, sagte er kurz. »Das ist doch das Konzil, oder?«
»Oh mein Gott«, murmelte Trish.
Niemand sonst sagte einen Ton. Alle waren da, sogar Seb, noch mit seinem Buch in der Hand: Auf Sams Geschrei hin waren wir alle angestürzt gekommen. Ich sank auf die Sofalehne und starrte auf den Fernseher. Alex stand neben mir, die Stirn in Falten gelegt. Ich war froh, seine Wärme an meinem Arm zu spüren.
Von der Tür aus begann Kara zu übersetzen. »… ich wurde mit verbundenen Augen zu diesem geheimen Ort gebracht, damit die Sicherheit dieser Gruppe nicht gefährdet wird, die von sich behauptet, das Seraphische Konzil zu sein – die Regierung jener himmlischen Wesen hier auf Erden. Ich wende mich jetzt an ihre Sprecherin.«
Eine Frau mit durchdringenden grauen Augen erschien auf dem Bildschirm. Ein Frösteln überlief mich. Dies war wirklich und wahrhaftig eine der Zwölf, eine von denen, die wir zu töten hofften. Doch irgendwie waren ihre Gesichtszüge schwer auszumachen. Es war, als hätte man sie im
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