Hueter der Daemmerung
innerlichen Seufzer schloss ich die Augen und machte mich bereit für eine neue Runde.
»Halt, stopp«, sagte Seb plötzlich. »Du bist total …« Er lachte, als ich ihn ansah. »So«, sagte er und zog verkrampft die Schultern hoch. »Es ist was Leichtes, wie ein Spiel. Pass auf, heute Abend denkst du einfach nicht daran, dass du deine Aura verändern willst. Wir versuchen es mal damit.«
Er sprang vom Tisch und ging zur Hintertür. Er beugte sich nach drinnen und knipste die Lampe aus, die über dem Eingang hing. Der Hinterhof versank in einem schummrigen Zwielicht. Trotz des Lichtscheins, der von den umliegenden Straßenlaternen herüberdrang, wurde die Atmosphäre gleich viel geheimnisvoller – gespenstischer.
»Okay, bist du bereit?«, fragte Seb, als er zurückkam. Seine Augen blitzten spitzbübisch.
Ich schüttelte den Kopf. Inzwischen lächelte ich. »Bereit wofür? Für ein großes Halbengel-Geheimnis?«
»Ja. Na ja, so was in der Art. Komm, steh auf.« Er zog mich auf die Beine. »Okay, achte auf meine Aura.«
Ich ließ seine Aura sichtbar werden. Er hatte sie ihre natürlichen Farben annehmen lassen – das helle, strahlende Silber und das dunkle Tannengrün. »Schau gut zu«, sagte Seb. Er hielt seine Hand hoch, die von einem silbernen Schimmer umgeben war. Dann ließ er sie durch die Luft zischen. Sie zog einen Silberschweif hinter sich her, so schnell, dass er förmlich glitzerte. Abermals durchschnitt seine Hand die Luft und beschrieb leuchtende Kreise und Schlaufen.
Mir war die Kinnlade heruntergeklappt. »Wahnsinn, lass mich auch mal …« Ich konzentrierte mich auf meine eigene Aura, und ein paar Sekunden später tat ich es ihm nach – mit meiner Hand zeichnete ich silberne Figuren um mich herum, als wäre ich eine dieser Turnerinnen mit den langen wirbelnden Gymnastikbändern. Ich lachte, als Seb seinen Namen in die Luft schrieb. Mein Name folgte, funkelte kurz auf und war im Nu wieder verschwunden. Wir waren wie zwei Kinder, die Wunderkerzen schwenkten. Ich konnte gar nicht aufhören zu grinsen. Das hätte ich mal wissen sollen, als ich noch ein kleines Mädchen war. Wie cool wäre es gewesen, eine immerwährende Wunderkerze zu besitzen?
»Das ist … fantastisch«, sagte ich, als wir schließlich auf die Picknickbank sanken. Ich schwenkte meine Hand durch die Luft, sah zu, wie sie schillerte und war mir bewusst, dass dies genau die fröhliche, ausgelassene Stimmung war, um die ich mich so bemüht hatte. »Wie bist du denn darauf gekommen?«
»Ich habe einfach ein bisschen herumgealbert, als ich noch klein war.« Seb saß neben mir, während ich mit dem silbernen Licht spielte. Er schien entzückt darüber zu sein, dass ich mich so freute. »Wir durften im Waisenhaus nachts nicht reden – also lag ich im Bett und habe mich stattdessen damit beschäftigt.« Verschwörerisch senkte er die Stimme. »Die anderen Jungs fanden mich ganz schön merkwürdig.«
Blitzartig schoss mir ein Bild vom Schulhof meiner Grundschule durch den Kopf: ein Grüppchen tuschelnder Mädchen, die mich unverhohlen anstarrten. Ich nickte betrübt. »Willkommen im Club. Ich habe den Leuten früher, als ich noch klein war, oft einen Höllenschrecken eingejagt. Ich dachte, jeder könnte hellsehen, und habe überhaupt nicht begriffen, warum die Leute sich so aufregten, wenn ich ihnen was erzählt habe.« Schmunzelnd warf ich Seb einen Blick zu und wünschte mir mehr denn je, wir wären uns bereits als Kinder begegnet. Mit ihm als Freund hätte mich der Schulhof damals nicht die Bohne interessiert. Wir hätten uns einfach unter das Klettergerüst verziehen und gemeinsam wunderlich sein können.
Seb betrachtete mich voller Wärme. Er wollte noch etwas sagen, doch dann schauten wir beide auf, weil sich die Hintertür öffnete und Alex seinen Kopf herausstreckte. Mein Herz machte einen Satz – ich hatte ihn den ganzen Tag lang kaum gesehen. Für heute musste er mit dem Sicherheitskram durch sein.
Kurz huschte ein Ausdruck von Resignation über Alex’ Gesicht, aber dann lächelte er. »Hey«, sagte er und schlenderte zu uns herüber. »Wie läuft’s mit Kara?«, fragte ich, als er sich zu mir auf den Tisch setzte. Ich hatte das Gefühl, er hätte gern den Arm um mich gelegt, hielte sich aber zurück. Es hätte zu sehr nach »Das ist meine Freundin, Pfoten weg!« ausgesehen. Unterdessen spürte ich förmlich, wie Seb sich verschloss und distanziert und wachsam wurde.
»Nicht so toll«, bekannte Alex und rieb sich die
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