Hueter der Daemmerung
ich es erneut versuchte, war mir jegliches Gefühl von Leichtherzigkeit abhandengekommen – ich würde erst mal wieder den Aura-Wunderkerzen-Modus zur Anwendung bringen müssen, um es zurückzuerhalten. Ich seufzte, als ich meine Augen aufschlug. Jetzt, da ich so weit gekommen war, wies Seb mich wieder und wieder darauf hin, dass ich den mit meiner Aura beschäftigten Teil meiner Gedanken wegsperren und von allem abtrennen müsste, sodass mich nichts mehr ablenken könnte. Aber anscheinend bekam ich den Bogen einfach nicht raus.
»Du bist echt schon viel besser geworden«, bemerkte er. Wir waren wieder draußen beim Picknicktisch. Seb saß verkehrt herum auf der Bank, ich neben ihm oben auf der Tischplatte.
»Ja schon, aber …« Ich schwieg und fuhr mir mit den Händen übers Gesicht. »Grrrr. Wieso krieg ich das nicht hin, wenn es dir so leichtfällt? Das ist ja schlimmer als Algebra!«
»Ich habe es gelernt, als ich noch klein war. Ich glaube, dadurch war es viel einfacher«, gab Seb freundlich zu bedenken. Er lehnte sich an die Tischkante und stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte, während er mir einen neugierigen Blick zuwarf. »Du hast Algebra belegt?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Bestimmt nicht freiwillig, war ein Pflichtfach.« Ich hatte Seb eine Menge von der Highschool erzählt, da er sie, genau wie Alex, nur aus dem Fernsehen kannte. Ich zog meine Beine in den Schneidersitz. »Wärst du gerne hingegangen, wenn du die Gelegenheit gehabt hättest? Zur Schule, meine ich.«
Ich spürte seine Überraschung, weswegen ich die Antwort kannte, bevor er sie aussprach. »Ja, natürlich. Selbst wenn ich mich so allein gefühlt hätte wie du. Ich würde immer noch gerne mehr wissen, als ich es tue.« Er verzog das Gesicht, als wolle er dem Ganzen keine allzu große Bedeutung beimessen. »Ich hätte vielleicht lernen können, mich beim Stehlen nicht erwischen zu lassen.«
In Wirklichkeit hatte Seb so viel gelesen, dass er über manches erheblich mehr wusste als ich. Ich betrachtete ihn und versuchte, ihn mir als Schüler vorzustellen. Hätte er tatsächlich eine Highschool besucht, wären wohl sämtliche Mädchen hinter ihm hergewesen, nicht anders als bei Alex. Ich hatte allerdings das Gefühl, dass Alex wohl eher draußen auf dem Basketballfeld zu finden gewesen wäre, während Seb sich in der Bibliothek vergraben hätte.
Er versetzte meinem Bein einen leichten Schubs. »Ich weiß, dass dir die Schule nicht besonders gefallen hat. Aber irgendwas muss es doch gegeben haben, woran du Spaß hattest.«
»Spaß haben« war nun wirklich zu viel gesagt. Ich fing an zu lachen und wollte schon sagen: Falsch geraten, da fiel mir der Kunstunterricht ein. Seit jeher hatte ich es geliebt, etwas mit meinen eigenen Händen zu erschaffen. Als diese Church of Angels -Sache passiert war, hatte ich gerade an einer kinetischen Skulptur gearbeitet, die aus Teilen alter Motoren zusammengesetzt war. Hätte ich es richtig hinbekommen, hätten sich die einzelnen Teile sogar von allein bewegt.
Ich beschrieb Seb meine Skulptur und er hörte interessiert zu. »Ja, das kann ich mir gut vorstellen.« Dann strich er sich gedankenverloren übers Kinn. »Ich hatte also recht«, entschied er. »Es gab doch etwas, was dir Spaß gemacht hat.«
»Wahrscheinlich«, räumte ich ein. Lächelnd und kopfschüttelnd sah ich zu ihm hinunter. »Woher wusstest du das?«
Er bedachte mich mit einem frechen selbstzufriedenen Blick. »Ach, weißt du – ich kenne dich eben besser als du dich selbst.«
Und das tat er manchmal wirklich, das war das Seltsame. Seb kannte mich besser als irgendjemand sonst auf der Welt. Sogar besser als Alex. Ich stützte die Arme auf die Oberschenkel. Im Hintergrund brummte unaufhörlich der Verkehr. »Kann ich dich was fragen?«, erkundigte ich mich nach einem Moment.
»Klar, das weißt du doch.«
Ich räusperte mich. Ich hatte darauf gebrannt, ihm diese Frage zu stellen, seit wir uns begegnet waren, aber aus irgendwelchen Gründen war es mir zu peinlich gewesen. »Ich habe mich nur gefragt … ob ich deinen Engel sehen könnte.«
Ich spürte, wie Emotionen in ihm aufwallten. »Dasselbe wollte ich dich auch schon fragen«, bekannte er. »Dringend.«
Auf einmal waren wir verlegen. Meine Wangen fingen an zu glühen. Ich strich mir eine meiner kurzen Haarsträhnen hinters Ohr. »Ahm … und wie sollen wir –«
»Beide zugleich«, schlug Seb vor und setzte sich auf.
Ich ließ mich auf die Bank plumpsen, schlug
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