Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hueter der Daemmerung

Hueter der Daemmerung

Titel: Hueter der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L. A. Weatherly
Vom Netzwerk:
die Beine unter und setzte mich so hin, dass ich ihn ansah. »Okay, bei drei.«
    Er nickte. »Eins … zwei … drei.«
    Bei »drei« schloss ich kurz die Augen und rief meinen Engel zu mir. Ich verschmolz mit ihr und ließ sie sanft über meinem menschlichen Körper in die Höhe steigen.
    Dann öffnete ich die Augen. Seb saß neben mir … und über ihm war sein Engel.
    Meine Menschen- und meine Engelsaugen starrten ihn an. Abgesehen davon, dass er hell leuchtete, sah Sebs Engel genauso aus wie er – mager und kräftig, braune Locken, hohe Wangenknochen. Über dem Tisch fächelten seine ausgebreiteten Flügel durch die Nachtluft. Angesichts dieses Wunders stockte mir der Atem: Zum allerersten Mal stand ich wirklich und wahrhaftig einem anderen Wesen meiner eigenen Spezies gegenüber. Ich meinte, mich gar nicht sattsehen zu können. An Sebs Gesichtsausdruck erkannte ich, dass es ihm genauso erging. Mehr noch – hatte er sich doch viele Jahre lang danach gesehnt.
    Sebs Engel trug Jeans und ein T-Shirt, und plötzlich ging mir auf, dass mein Engel alles tragen konnte, was ich wollte. Ich ließ sie in ein Kleid aus den Sechzigerjahren schlüpfen, das ich geliebt hatte, und sah Sebs feines Lächeln. Während mein Engel weiter in der Luft schwebte, betrachtete ich Sebs Engelshände. Wie stark und glänzend sie aussahen. Ich sehnte mich danach, selbst die Hand auszustrecken – um zu sehen, wie es war, ein Wesen meiner Art in dieser Form zu berühren. Etwas hielt mich zurück. Fürs Erste schien es mir einfach … zu viel.
    Auf der Bank blickte Seb mir unverwandt in die Augen und vor lauter Verwunderung, dass wir uns gefunden hatten – dass er mich gefunden hatte –, war ich fast benommen. Mein Mund wurde trocken, als ich erneut die wahre Intensität seiner Gefühle für mich spürte, doch in dem Moment wäre ich eher gestorben, als den Blick von Seb abzuwenden. Ich realisierte, wie gerne ich mich als Engel zusammen mit seinem Engel in die Lüfte erhoben hätte. Wir beide, die so hoch flogen, bis wir hinter den Lichtern der Stadt die Sterne finden würden – aber wir wussten, dass es hier nicht sicher war.
    Schließlich, nach einem langen letzten Blick, kehrten unsere Engel mit rauschenden, schimmernden Flügeln in unsere menschlichen Körper zurück, sodass es abermals so aussah, als säßen lediglich Seb und ich zusammen in dem schäbigen, zubetonierten Hinterhof. Keiner von uns rührte sich. Keiner unterbrach den Blickkontakt. Es fühlte sich an … ich kann nicht beschreiben, wie es sich anfühlte. Wir hatten uns gegenseitig Einblick in unser Innerstes gewährt, unser wahres Ich mit dem anderen geteilt.
    Ich sah, dass Seb schluckte. Seine Augen leuchteten. Ohne zu sprechen, griff er nach meiner Hand. Im selben Moment streckte auch ich die Hand nach ihm aus. Unsere Finger trafen sich und verschränkten sich ineinander. Uns schien keine Wahl zu bleiben: In diesem Augenblick mussten Seb und ich uns einfach berühren, mussten irgendwie ausdrücken, was wir gerade erlebt hatten. Zitternd stieß ich die Luft aus und lehnte mich an die feste Wärme seines Arms, ohne seine Hand loszulassen.
    Lange saßen wir so da, während um uns herum das Leben in der nächtlichen Stadt summte.

18
     
     
    »Wie kommen wir denn jetzt in den Torre Mayor?«, fragte Sam zum hundertsten Mal. »Kara braucht doch echt ewig. Ich finde, wir sollten einfach auf diesen Security-Kram pfeifen. Warum zum Teufel stürmen wir nicht einfach da rein, erledigen, was wir erledigen müssen, und hauen wieder ab!«
    Sie kamen gerade von einer weiteren Jagd zurück, diesmal auf dem Alameda Central. Die Metro war weniger überfüllt als sonst, weswegen die AKs nebeneinander in einem beinahe leeren Waggon sitzen konnten. Alex ächzte, lehnte sich zurück und ließ seinen Kopf an das Fenster sinken. »Sam, das haben wir doch schon tausendmal durchgekaut«, sagte er. »Erklär’s mir doch noch mal. Warum war die Idee, einfach drauflos zustürzen, ohne zu wissen, worauf wir uns einlassen, noch gleich so toll? Ach ja, richtig – weil wir hier alle in einem Rambo-Film mitspielen.«
    »Na ja, wir können doch nicht einfach nur darauf warten, dass Kara endlich diesen gottverdammten Code herausbekommt«, murrte Sam. Er lümmelte auf seinem Sitz herum: Ein großer, missmutiger Texaner. »Bei diesem Schneckentempo ist das Konzil schon längst wieder über alle Berge, bevor sie so weit ist.«
    Alex gab keine Antwort, weil er genau wusste, dass es im schlimmsten Fall

Weitere Kostenlose Bücher