Hueter der Daemmerung
mehr fühlte als hörte -eine Schockwelle rauschte an mir vorbei und warf mich um.
Übergangslos fand ich mich in meinem Engelskörper wieder und flog vom Turm herab, während die Schreie von Millionen Engeln mir durch Mark und Bein drangen. Aber meine Flügel waren zu schwer. Ich konnte mich nicht in der Luft halten; ich fiel – ich musste mich mehr anstrengen, schneller mit den Flügeln schlagen …
Unsanft landete ich auf dem Boden. Stille, so klar und perfekt wie geschliffenes Glas. Ich war in einem Park und hatte wieder meine menschliche Gestalt angenommen. Weiches grünes Gras. Palmen, dazwischen Pappeln und Zypressen. Die zwölf Engel waren verschwunden … aber ich war nicht allein.
Ein Junge stand da und beobachtete mich. Er war etwas älter als ich und ungefähr so groß wie Alex. Braunes lockiges Haar, Dreitagebart, hohe Wangenknochen und markante Züge – ein schönes Gesicht, das, wie ich wusste, großen Schmerz durchlitten hatte und in dem trotzdem so viel Humor und Zärtlichkeit lagen, dass sich mein Herz zusammenzog.
Wir starrten einander an. Ich hatte keine Ahnung, wer der Junge war, aber der Gedanke, jemals wieder ohne ihn zu sein, erfüllte mich mit Verzweiflung. Dieses unerwartete Gefühl nahm mir den Atem.
»Wer bist du?«, flüsterte ich schließlich.
Als Antwort streckte der Junge seine Hand aus. »Komm, querida«, sagte er sanft.
Seine Augen drängten mich dazu, Ja zu sagen. Und ein Teil von mir wollte so sehr die Finger in seine Hand schieben, dass es wehtat.
Nein, dachte ich. Ich liebe Alex. Und dann: Aber, oh mein Gott, wie soll ich es nur ertragen … ohne dich zu sein?
Ich erwachte mit einem Ruck. Es war immer noch Nacht. Ich lag sicher und geborgen im Zelt in meinem Schlafsack, zusammen mit Alex, der neben mir schlief. Was war denn das gewesen? Mit klopfendem Herzen schmiegte ich mich an Alex’ bloßen Oberkörper. Er bewegte sich im Schlaf und zog mich enger an sich. Ich umarmte ihn fest, beinahe schuldbewusst. Wie hatte ich, und sei es nur im Traum, so für jemand anderen empfinden können?
Vor allem jetzt. Meine Wangen begannen leicht zu glühen. Ich lächelte in mich hinein, als ich Alex' Atem in meinem Haar spürte. Wir hatten es langsam angehen lassen, seitdem wir zusammen waren. Doch vorhin … im Prinzip hätten wir uns beide in den Hintern treten können, dass Alex nicht noch etwas anderes außer Schere und Haarfarbe in der Drogerie besorgt hatte. Wir hatten es geschafft, uns zusammenzureißen. Und es war trotzdem einfach unglaublich gewesen. Und wunderschön. Ich küsste seine Schulter und spürte das warme Gewicht seines nackten Beins, das über meinem lag.
Okay, vergiss den Teil mit dem Jungen, sagte ich mir. Das war nur das wirre Ende eines Traums. Aber der Rest … Mit gerunzelter Stirn ließ ich die Bilder noch einmal Revue passieren: Die endlose Stadt mit ihrem riesigen Platz, der pulsierenden Musik und den Menschenmassen. Dann die Explosion der zwölf feurigen Engel – meine schweren Flügel, die Millionen schreiender Engel. Als ich mich an all das erinnerte, verspürte ich erneut ein nagendes Gefühl von Dringlichkeit, stärker als zuvor – und kalte Furcht, die sich in meinem Magen zusammenballte.
Der Traum war eine Vorahnung, dessen war ich mir sicher. Wo immer diese Stadt auch liegen mochte, Alex und ich mussten dorthin.
3
Der Engel dämmerte zwischen wachen und bewusstlosen Momenten dahin, Erinnerungen vermischten sich mit dem Hier und Jetzt.
Er lag im Bett in seinen Gemächern; die Decken waren weich. Manchmal summte es, wenn die Zentralheizung ansprang, dann klickte es leise, wenn sie ausging. Wieder und wieder sah Raziel den Attentäter vor sich: der dunkelhaarige Junge, der eine Waffe auf ihn richtete und seinen Arm um dieses Monstrum von Halbengel gelegt hatte. Das Gesicht des Mädchens war blass, ihre grünen Augen weit aufgerissen.
Die Erkenntnis, dass er der Vater dieses Wesens war, hatte Raziel zutiefst erschüttert. Aber es gab keinen Zweifel: Das Echo seiner eigenen Energie, das er während des Kampfes zwischen ihren Engelsmanifestationen gespürt hatte, war unverkennbar gewesen. Außerdem war sie Miranda, der jungen Musikstudentin, mit der er sich früher einmal vergnügt hatte, wie aus dem Gesicht geschnitten. Ihm selber sah sie allerdings nicht ähnlich – zum Glück. Raziel stöhnte laut auf, als vor seinem inneren Auge abermals der Attentäter erschien. Das nächste Mal würde er schneller sein. Das nächste Mal würde
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