Hueter der Daemmerung
Er warf das zusammengerollte Zelt auf den frostigen Boden und fing an, die Schlafsäcke loszubinden. »Ich hab mir gedacht, wir könnten hier oben, im Schutz der Berge, schnell noch ein paar Stunden schlafen und dann kurz vor Morgengrauen die Grenze überqueren. Ich weiß nämlich nicht mehr ganz genau, wo der Übergang liegt. Im Dunkeln könnte ich ihn verfehlen.«
Überflüssig zu erwähnen, dass wir nicht auf legalem Weg nach Mexiko einreisen würden. Ich verdrängte meine Angst davor, was die nächsten Stunden uns bringen mochten, und half Alex dabei, das Zelt aufzubauen.
»Ich habe noch nie gezeltet«, bemerkte ich, als ich eine Zeltschnur entwirrte.
Alex war damit beschäftigt, einen der Heringe in den harten Boden zu rammen. Verblüfft sah er mich an. Im Mondlicht wirkten seine Züge wie gemeißelt. »Echt? Noch nie?«
»Nein. Meine Mutter ist nie mit mir zelten gegangen, und Tante Jo, na ja …« Ich hob die Schultern.
Er lächelte und schien genau zu wissen, was ich meinte. »Tja, wir werden es ein wenig primitiv haben«, sagte er und ging zur nächsten Leine. »Man kann Kühlschränke und Herde und so Zeug mitnehmen, aber ich fand schon immer, dass das eigentlich nichts mehr mit richtigem Zelten zu tun hat.«
»Und auf dem Motorrad wäre ja sowieso kein Platz dafür«, fügte ich hinzu.
Alex schüttelte den Kopf und schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Was? Du würdest dich also weigern, einen Kühlschrank auf den Schoß zu nehmen, wenn wir einen hätten? Ein bisschen mehr Einsatz, wenn ich bitten darf.«
»Ja«, sagte ich. »Sorry.«
Wir krochen nach drinnen und verbanden die Schlafsäcke miteinander. Die Erde unter dem dünnen Zeltboden fühlte sich eisig an. »Auf einen Kühlschrank kann ich gut verzichten«, sagte ich. »Aber eine Heizung wäre ganz nett.« Ich klapperte praktisch schon mit den Zähnen.
Alex holte unsere Sachen vom Motorrad herein, dann machte er die Zeltklappe zu, sodass wir sicher eingeschlossen waren.
»Komm her, Babe, ich wärme dich.«
Ich lächelte. Immer wenn er mich so nannte, wäre ich am liebsten dahingeschmolzen. Er zog mich an sich und zusammen kuschelten wir uns in die weichen Schlafsäcke. Außer unseren Schuhen hatten wir beide nichts ausgezogen – es war viel zu kalt, um auch nur daran zu denken.
»Versprich mir, dass es in Mexiko wärmer ist«, sagte ich und schmiegte mich an ihn. Ganz allmählich begann ich aufzutauen und mich sogar sicher zu fühlen – zumindest für den Augenblick.
»Das verspreche ich«, murmelte Alex. Er lag auf dem Rücken und hatte die Arme um mich geschlungen. Eine seiner Hände war unter mein T-Shirt geschlüpft und streichelte mir gemächlich über den Rücken. Ich konnte spüren, wie müde er war. Ich war ebenfalls müde. Seit ich in der Church of Angels -Kathedrale von Denver gekniet und versucht hatte, die Zweite Welle der Engel aufzuhalten, schienen eine Million Jahre vergangen zu sein. Dabei waren es nicht einmal zwei Tage.
»Alex?«, flüsterte ich.
»Hmm?«
»Was machen wir, wenn wir in Mexiko sind? Hast du irgendeine Idee, wo wir hinwollen?« Ich wusste, dass er schon ein Dutzend Mal in Mexiko gewesen war. Es hatte sich so angehört, als wären er und die anderen AKs oft über die Grenze gegangen.
Seine Hand, die meinen Rücken auf- und abwanderte, hielt inne. Eine Minute lang dachte ich, er wäre eingeschlafen. Schließlich sagte er: »Ich dachte, wir gehen in die Sierra Madre. Dort findet sich bestimmt ein sicheres Versteck, in das wir uns zurückziehen können. Und dann können wir versuchen, neue AKs zu rekrutieren.«
Während er sprach, erhaschte ich einen Blick auf seine Gedanken: Eine wilde, schroffe Gebirgskette voll tiefer Schluchten und unwegsamer Straßen. Dort oben konnte man sich jahrelang verstecken, ohne je entdeckt zu werden. Es war der beste Ort für unser Vorhaben und ich wäre trotzdem in Sicherheit, davon war er überzeugt. Trotzdem spürte ich hinter den Bildern eine kalte Angst.
»Alex? Was ist los?«
»Nichts«, wiegelte er ab.
Ich zögerte, weil ich überlegte, ob ich nachbohren sollte. »Das stimmt nicht. Ist schon okay, wenn du nicht mit mir darüber reden willst. Aber ich kann es spüren.«
Eine lange Pause entstand. Draußen vor dem Zelt bewegten sich die kahlen knochigen Äste der Bäume im Wind. Schließlich lachte Alex leise auf. »Eine Freundin, die Gedanken lesen kann, daran muss ich mich erst noch gewöhnen«, sagte er. »Es ist alles in Ordnung, nur …« Er seufzte. Und
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