Hueter der Daemmerung
Hoffnung spüren, die in ihr aufgekeimt war. Er lehnte sich an eine Palme und genoss die Stille in seinem Kopf. Nach ein paar Stunden Gedankenlesen fühlte er sich leer und ausgepumpt. Er war sich nicht ganz sicher, warum er sich für lumpige hundert Pesos derart ins Zeug legte. Als er beschlossen hatte, das Stehlen aufzugeben, war das Weissagen einfach nur eine Möglichkeit gewesen, sich über Wasser zu halten – und damals hatte er sich keine großen Umstände gemacht, sondern lediglich aus dem, was er gesehen hatte, einige Vorhersagen zusammengestoppelt. Doch irgendwann im Laufe der Jahre war es ihm zunehmend wichtig geworden.
Seb dachte an die Ankunft der Engel und seufzte. Vor zwei Tagen hatte er in einem Cafe zufällig ein paar Fernsehaufnahmen gesehen. Daraufhin hatte er sich für einen kurzen bangen Moment gefragt, ob die vielen neuen Engel ihn nicht doch noch irgendwie zu seinem Halbengel-Mädchen führen würden. Ihm war allerdings nicht klar, wie das gehen sollte – und deshalb war in seiner Welt alles beim Alten geblieben, ganz gleich wie viel Freude die Engel allen anderen gebracht haben mochten. Diese Erkenntnis hatte ihn deprimiert, und danach hatte er es tunlichst vermieden, sich weitere Berichte über sie anzuschauen.
Seb fuhr sich mit der Hand über seine Bartstoppeln – Schluss damit. Als er aufstand, hörte er eine Frauenstimme seinen Namen rufen. Er drehte sich um und sah zwei Mädchen, die ein, zwei Jahre älter waren als er, auf sich zukommen. Beide mit diesem breiten amerikanischen Lächeln und wippenden Pferdeschwänzen. »Hey, erinnerst du dich noch an uns?«, fragte die Rothaarige auf Englisch, als sie neben ihm standen.
»Wie könnte ich euch vergessen?« Seb warf sich seinen Rucksack über die Schulter. Lucy und Wie-hieß-sie-noch-gleich? Amanda, genau. Sie gehörten zu einer Gruppe amerikanischer Studenten, die in derselben Unterkunft wohnten wie er. Letzte Nacht hatte Seb mit einigen von ihnen zusammengesessen. Sie hatten sich unterhalten und etwas getrunken. Das Spanisch der Mädchen war nicht annähernd so flüssig, wie sie glaubten, sodass es für ihn einfacher gewesen war, Englisch mit ihnen zu sprechen. Er hatte die Sprache nach und nach von den amerikanischen Touristen, denen er die Zukunft vorhersagte, aufgeschnappt. Er sprach auch ein wenig Französisch – neue Sprachen lernte er geradezu mühelos. Er wusste, dass seine hellseherischen Fähigkeiten ihm dabei eine große Hilfe waren.
»Und? Bist du jetzt fertig mit der ›Arbeit‹?«, fragte Lucy, die Rothaarige, und warf ihm ein kokettes Lächeln zu, während sie mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft malte. Sie fanden seine Wahrsagerei brüllend komisch. Er hätte es ihnen gegenüber auch gar nicht erwähnt, wenn nicht einer aus ihrer Gruppe ihn tags zuvor hier auf dem Markt gesehen hätte. »Denn falls ja«, fuhr sie fort, »könntest du doch den Fremdenführer für uns spielen.«
Er zögerte. Beide Mädchen waren hübsch und nette Gesellschaft. Aber gerade jetzt war ihm nur danach, ins Hostel zurückzugehen und sein Buch zu lesen – sich vielleicht mit einer Zigarette nach draußen zu setzen. Aber Lucy zog ihn bereits lachend am Arm. »Wir akzeptieren kein Nein. Außerdem hast du es gestern Abend versprochen.«
»Daran kann ich mich gar nicht erinnern«, entgegnete er und musste unfreiwillig grinsen.
»Na ja, du hast es quasi versprochen. Komm schon, das volle Programm – wir wollen uns einen typisch mexikanischen mercado angucken.«
Er gab nach. Warum auch nicht? Es war ja nicht so, als wusste er mit seiner Zeit etwas Besseres anzufangen, jetzt, da er aufgehört hatte zu suchen. Der Gedanke tat weh und er schob ihn beiseite.
»Na gut«, sagte er. Er strich sich die Haare zurück. Die langen Locken, die ihm in die Stirn hingen, nervten ihn. »Ich glaube, wir sollten uns zuerst mal was zu essen besorgen.«
»Au ja, gute Idee«, sagte Amanda. Sie hatte dunkles Haar und Augenbrauen, die viel zu perfekt waren, um natürlich zu sein. »Du gehst vor.«
Das fröhliche Chaos des Marktes verschluckte sie: Verkäufer, die lauthals ihre Angebote anpriesen; der Duft nach würzigem Essen; Massen von Kauflustigen. Seb war jetzt seit beinahe zwei Wochen in Chihuahua. Nach seiner Entscheidung am Waisenhaus hatte er sich einfach vom erstbesten Laster mitnehmen lassen. Das Fahrziel war ihm egal gewesen, aber dann hatte ihn irgendetwas dazu getrieben, hier auszusteigen. Das Gefühl war so eindringlich gewesen, dass er
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