Hueter der Daemmerung
den Fahrer fast angeschrien hätte, damit er anhielt. Mittlerweile kam es ihm sinnlos vor. Die Stadt war genauso staubig und heruntergekommen wie er sie in Erinnerung hatte. Trotzdem, um zu überlegen, was er mit seinem restlichen Leben anfangen wollte, war dieser Ort genauso gut oder schlecht wie irgendein anderer.
Das Problem war nur, dass er überhaupt keinen Plan hatte. Seit er in Chihuahua angekommen war, konnte er sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, dass irgendetwas Bestimmtes von ihm erwartet wurde. Und dieses irritierende Gefühl umschwirrte ihn so unablässig wie eine lästige Biene.
Sie holten sich Tacos und bummelten zwischen den Ständen herum. Lucy hielt sich dicht neben ihm und berührte häufig seinen Arm, während sie und Amanda sich eifrig über die Zugfahrt zum Copper Canyon unterhielten, die ihre Gruppe am nächsten Morgen unternehmen würde, um sich die zerklüfteten Schluchten der Sierra Madre anzuschauen. Es amüsierte Seb, wie aufgeregt sie bei dem Gedanken waren, das »echte« Mexiko zu erleben. Die Copper-Canyon-Tour – so sicher und ganz auf amerikanische Touristen abgestimmt – war nicht im Entferntesten wie das echte Mexiko, das er kannte.
»Ihr werdet viel Spaß haben«, war alles, was er sagte. »Passt bloß auf, dass ihr nicht aus dem Fenster plumpst – da geht es ziemlich tief runter.«
»Hey, vielleicht könntest du ja mitkommen!« Lucy hüpfte ein Stückchen voraus, um dann rückwärts vor ihm herzugehen. Sie trug enge Jeans und ein Neckholder-Top, das ihre sahnig weiße Haut gut zur Geltung brachte. »Warum denn nicht? Wir können dir bestimmt noch ein Ticket besorgen. Das wird toll!«
Amanda verdrehte die Augen. »Ahm, hallo!? Wir mussten die Tickets Monate im Voraus buchen, schon vergessen? Wir kriegen auf keinen Fall noch ein Ticket für ihn.«
»Ist schon okay, ich bin schon mal da gewesen«, sagte Seb. Er knüllte das Wachspapier, in das sein Taco gewickelt gewesen war, zusammen und warf es in einen Papierkorb. Er war sich bewusst, dass selbst während er mit den Mädchen sprach, ein Teil von ihm jede Aura überprüfte, an der er vorbeikam. Oh ja, dachte er spöttisch, er hatte die Suche aufgegeben – verschwendete keinen Gedanken mehr daran.
Lucy zog eine Schnute. »Oh, na ja, dann … Wirst du in ein paar Tagen noch hier sein? Und wahrsagen?« Ihr Tonfall machte deutlich, dass sie keine Sekunde lang an solches Zeug glaubte.
»Vielleicht … ich habe mich noch nicht entschieden.« Auch womit er die gähnend leeren Jahre füllen wollte, die vor ihm lagen, hatte er noch nicht entschieden. Aber da er nicht darüber nachdenken wollte, sagte er: »Wer weiß, vielleicht schmeiße ich auch alles hin und werde Konzertgeiger.«
»Konzertgeiger?« Amanda knuffte ihn in die Seite. »Du? In hundert Jahren nicht, E-Gitarre oder gar nichts, so wie du aussiehst. Ich warte schon die ganze Zeit darauf, dass du deine Klampfe rausziehst und Stairway to Heaven hinlegst.«
Seb verkniff sich ein Grinsen. Einer solchen Vorlage konnte er nie widerstehen. »Nein, mein Vater ist Geiger«, versicherte er ernsthaft. »Darum liegt es mir wahrscheinlich auch im Blut, wisst ihr?«
Sie blinzelte. »Echt jetzt?«
»Ja, ich bin mit dem ganzen Zeug aufgewachsen. Meine Mutter ist Opernsängerin, spielt aber auch ein Instrument. Klavier. Sie sagt, das hilft ihr beim Entspannen, darum nimmt sie es gerne mit auf Tournee – es mit ins Flugzeug zu kriegen ist allerdings immer ein Riesentheater. Denn es muss unbedingt ihr Klavier sein und kein anderes.«
Amandas braune Augen waren ganz groß geworden. »Wow, stimmt das?«
»Nein, natürlich nicht«, lachte Lucy. »Amanda, du Nuss, schalte mal dein Gehirn ein.«
Das dunkelhaarige Mädchen verzog das Gesicht. »Okay, Seb, reingefallen. Also, was machen deine Eltern wirklich?«
»Wirklich? Sie betreiben eine Zirkusschule.«
Lucy kicherte. »Du wirst nichts aus ihm herausbekommen. Erinnerst du dich nicht mehr an gestern Abend? Seb ist der ultimative geheimnisvolle Fremde.« Sie drückte seinen Arm und warf ihm ein verschmitztes Lächeln zu. »Ich wette, deine Eltern sind in Wirklichkeit Mr und Mrs Stinknormal aus Schnarch-City in Mexiko.«
Er lachte laut auf - wenn sie wüsste. »Ja, da könntest du recht haben«, pflichtete er ihr bei.
Sie beugte sich dicht zu ihm herüber und fuhr mit dem Finger über die dünne Narbe auf seinem Unterarm. Sie stammte von einer Messerstecherei, in die er vor ein paar Jahren geraten war. Flüchtig stieg
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