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Hueter der Daemmerung

Hueter der Daemmerung

Titel: Hueter der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L. A. Weatherly
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war nicht allein.
    Glockengeläut durchzog den Abend; die Uhr der Kathedrale schlug sechs. Als der letzte Ton verklang, kam Seb mit weichen Knien wieder auf die Beine. Falls die zwei sich nach dem Traum des Mädchens richteten, dann waren sie jetzt unterwegs nach Mexico City. Es war egal, wie sehr er El DF hasste. Er musste auf der Stelle dorthin, noch in dieser Sekunde, damit er dieses Mädchen finden konnte – und wenn er dafür jeden Quadratzentimeter der Stadt einzeln durchkämmen musste.
    Seb faltete das Shirt zusammen und verstaute es in seiner Tasche, seine Finger trennten sich nur ungern davon. Das Foto betrachtete er noch ein Weilchen. Er nahm die feinen spitzen Gesichtszüge in sich auf, ihr Lächeln, ihre grünen Augen. Verwundert schüttelte er den Kopf, während er das nach oben gewandte Gesicht berührte. So also sah sie aus, so schön, schon als Kind. War sie aus demselben Grund mit ihrem menschlichen Freund zusammen, aus dem Lucy ihn in Versuchung geführt hatte? Weil die Einsamkeit übermächtig geworden war und sonst niemand da war? Vielleicht hatte sich dieses Mädchen ebenso allein gefühlt wie er.
    Seb steckte das Foto in seine Jeanstasche. Er wollte es dicht bei sich haben. Mexico City hatte zwanzig Millionen Einwohner, aber irgendwie würde er sie finden. Sie mussten sich begegnen, mussten zusammen sein. Diese Gewissheit war so sicher und beständig wie ein Herzschlag. Etwas anderes kam nicht infrage – es war Schicksal.
    Sie hatte von ihm geträumt.

5
     
     
    Was mir an Mexico City als Erstes auffiel, war der Verkehr. Ein endloses Chaos, so weit das Auge reichte: Autos, Taxis, andere Motorräder. Ein Hupkonzert. Rote Ampeln, an denen niemand hielt. Straßenmarkierungen, die nur dazu da waren, um möglichst unverfroren missachtet zu werden. Wenn der Verkehr auch nur eine Sekunde lang zum Stehen kam, tauchten Straßenhändler mit Zigaretten und Süßigkeiten auf, die sie mit lauten Rufen anpriesen. Ich hielt Alex’ Taille fest umklammert, während er uns geschickt durch das Gewimmel schleuste, nach links und rechts auswich oder bremste, wenn jemand versuchte, uns abzudrängen.
    Das Zweite war der Geruch, der mir in die Nase stieg – ein schwindelerregender Cocktail aus Auspuffgasen, dem Duft von Gewürzen, der von den Imbissständen herüberwehte, und Staub von den Baustellen. Und dann der Krach: Presslufthämmer, Rockmusik, protestierend quietschende Bremsen. Ich konnte gar nicht aufhören, alles anzustarren, alles in mich aufzusaugen. Als Alex und ich uns dem Stadtzentrum näherten, sah ich mittelalterliche Bauwerke, die versuchten, sich neben modernen Glaskonstruktionen und Jugendstilgebäuden aus den Dreißigerjahren zu behaupten. Andere Häuser standen leer, mit Graffiti beschmierte Bretter verdeckten die Fenster. Ich blinzelte, als mir noch etwas auffiel – viele Gebäude wirkten leicht verzerrt, als betrachte man sie mit dem leicht getrübten Blick nach einer durchzechten Nacht. Die ganze Stadt sah aus wie das Schlachtfeld am Ende einer gigantischen Party.
    Und es gab Engel, natürlich.
    Den ersten entdeckte ich, kurz nachdem wir die Stadtgrenze überquert hatten. Gelassen glitt er ein paar Straßen weiter über einem Wohnviertel dahin. Als wir tiefer in die Stadt hineinfuhren, sah ich hier und da noch andere, die ihre Kreise zogen und gelegentlich wie Lichtblitze in die Tiefe schossen. Ich sah sogar einen, der auf einem schmuddeligen Bürgersteig stand und sich nährte, keine zehn Fuß von uns entfernt, als wir vorbeifuhren. Es überlief mich kalt, und doch konnte ich den Blick nicht abwenden. Der alte Mann, von dem er sich nährte, lächelte verwirrt. Der strahlend weiße Engel war über zwei Meter groß. Gleißend reflektierten seine Flügel das Sonnenlicht. Es war surreal, wie die Leute auf dem Bürgersteig sich einfach an dem Mann vorbeidrängten, taub und blind für das, was mir so schmerzlich ins Auge sprang.
    Die nächste Ampel sprang auf Rot, und wir hielten an. Alex schaute über seine Schulter und schob das Visier hoch. »Wir sollten mal darüber nachdenken, wo wir eigentlich hinwollen. Irgendwelche Vorschläge?«
    Ich schluckte. Noch nicht einmal Alex konnte sehen, was ich sah – außer, wenn er seine Bewusstseinsebene wechselte, indem er sie durch seine Chakren steigen ließ. Plötzlich fühlte ich mich sehr einsam. Ich wandte den Blick von dem sich nährenden Engel ab und war dankbar, dass das Wesen zu abgelenkt war, um mich zu bemerken. »Keine Ahnung«, sagte

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