Hueter der Daemmerung
eigene Aura. Wann immer er sie betrachtet hatte, hatte sie silbern geleuchtet. Und waldgrün, aber das Silber hatte überwogen. Und nie hatte er eine andere Aura gesehen, die der seinen ähnelte. Diese Andersartigkeit hatte Seb zutiefst beunruhigt – er war davon überzeugt gewesen, dass seine seltsame Aura der Grund für die Schläge gewesen war. Damals hatte seine lebenslange Gewohnheit, die Farben seiner Aura an die der Menschen in seiner Umgebung anzupassen, ihren Anfang genommen. Dass es sinnlos war, weil außer ihm kein Mensch die leuchtenden Energiefelder überhaupt sehen konnte, hatte er nicht gewusst.
Aber er sah die Auren von Menschen nicht nur, wenn er ihnen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Er konnte sie auch auf Fotos erkennen. Und jetzt … Seb blickte auf das gerahmte Bild in seiner Hand und es war, als würde die ganze Welt den Atem anhalten. Es stimmte. Er hatte sich nicht geirrt. Das kleine Mädchen, das durch die Weidenzweige blinzelte, hatte eine Aura wie er: Silbern, mit lavendelfarbenen Lichtern.
Ein Halbengel.
Sie war es.
Sebs Herz hämmerte in seiner Brust. Herrgott, er musste sie finden. Aber wo war sie? Wer war sie? »Sie«, Plural, hatte der Typ gesagt. Also war sie zusammen mit jemandem unterwegs. Er schien sich sicher gewesen zu sein, dass sie nicht mehr in Chihuahua waren, aber …
Seb schloss die Augen und ließ sein anderes Ich in die Höhe steigen, obwohl er seinen Engel in der Stadt für gewöhnlich verbarg – der gewaltsame Zusammenstoß mit einem Engel vor vielen Jahren hatte ihn das gelehrt. Doch jetzt scherte er sich nicht darum. Er flog durch das Dach des Musikpavillons, breitete seine glänzenden Flügel aus und glitt über der Stadt dahin, während er ihre Straßen, Parks und den Highway, der sie durchschnitt, absuchte.
Nichts, natürlich nicht. Gar nichts.
Sein Engel rauschte zu ihm zurück. Seb öffnete die Augen und starrte blind auf einen der verschnörkelten Eisenpfeiler. Vor lauter Angst, dass er möglicherweise so kurz davor gewesen war, sein Halbengel-Mädchen endlich zu finden, nur um sie dann irgendwie zu verpassen, war ihm ganz schlecht.
Sein Blick fiel auf den Rucksack zu seinen Füßen. Plötzlich erinnerte er sich an das Shirt des Mädchens – das Gefühl von Vertrautheit, das ihn auf dem Marktplatz überwältigt hatte. Er zog es hervor. Der Stoff unter seinen Fingern fühlte sich weich an. Um sich zu beruhigen, holte Seb tief Luft und schloss abermals die Augen.
Schlagartig brach sie über ihn herein, eine Energie, die der seinen so ähnlich war, dass ihm schwindlig wurde. Seb ballte die Fäuste, er klammerte sich an den dünnen Stoff wie an eine Rettungsleine. Dieses trügerische Halbengel-Phantom, dem er nun schon seit so vielen Jahren hinterherjagte, sein Halbengel-Mädchen – es gab sie wirklich. Sie hatte dieses Shirt getragen. Er spürte sie so deutlich. Ihr Geist hing in dem Stoff. Alles, was er bereits so lange an ihr liebte – ihre Freundlichkeit, ihre Kraft, ihren Humor – es war alles da, und noch mehr. Sebs Herz klopfte zum Zerspringen.
Als er sich endlich wieder gesammelt hatte, begriff er, dass sie ungefähr gleich alt waren, und dass sie sich wegen eines Traums gesorgt hatte. Bilder stiegen vor Sebs innerem Auge auf und angesichts der vertrauten Straßen zog er die Stirn kraus. El DF. Sie hatte von Mexico City geträumt und von Engeln und ein Gefühl von Dringlichkeit zerrte an ihr wie der Sog der Gezeiten. Sie mussten dorthin, sie und ihr menschlicher Freund – sie hatten keine Wahl. Die Einzelheiten des Traumes wirbelten über ihn hinweg. Er konnte die Angst des Mädchens spüren, ihre Sorge.
Das letzte Bild versetzte ihm einen heftigen Schock.
In ihrem Traum stand ein Junge in einem Park und beobachtete sie. Er streckte die Hand aus, nannte sie querida. Seb konnte fühlen, wie gerne das Mädchen zu ihm gehen wollte, die Sehnsucht, die sie überkam, als ihre Blicke sich trafen. Und das Gesicht des Jungen war dasselbe, das er erblickte, wann immer er in den Spiegel schaute.
Der Traum verblasste. Seb ließ das Shirt sinken, seine Gedanken überschlugen sich. Sie hatte von ihm geträumt – sie sehnte sich nach ihm, genau wie er sich immer nach ihr gesehnt hatte. Eine Minute lang konnte er nicht anders: Er sank an das Geländer des Musikpavillons und vergrub den Kopf in seinen Armen, während er mit den Tränen kämpfte und weiterhin das Shirt umklammerte. Oh Gott, es stimmte – es stimmte wirklich. Sie war real. Er
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