Hueter der Daemmerung
»Aber wenn du willst … immerhin ist es deine erste Nacht hier …«
»Nein, ist schon in Ordnung. Ich warte«, sagte ich und seufzte innerlich. Ich ging in Richtung Badezimmer, um mich umzuziehen. Denn mich auszuziehen, während Liz und Trish jede meiner Bewegungen genau unter die Lupe nahmen, war nun wirklich das Allerletzte, wonach mir der Sinn stand. Aber dann blieb ich stehen. Wenn ich ins Badezimmer ginge, würden sie Gott weiß was über mich denken. Dass Engelsflügel zwischen meinen Schulterblättern sprossen, oder so. Also biss ich die Zähne zusammen und zog mich an Ort und Stelle um. Ich drehte ihnen den Rücken zu und spürte, wie ihre Blicke sich in meine Haut brannten.
»Ich, ahm … du kannst ihn gerne behalten, ich brauche ihn eigentlich nicht mehr«, platzte Trish heraus, als ich mir das Spaghettiträgeroberteil des Schlafanzugs über den Kopf zog.
»Danke«, sagte ich, als ob ich nicht genau wüsste, warum sie ihn nicht zurückhaben wollte. Und während auch die anderen sich bettfertig machten, war das drückende Schweigen im Zimmer beinahe greifbar.
Jetzt lag ich wach und fing an, es bitterlich zu bereuen, dass Alex und ich hier in getrennten Betten schliefen. Ich könnte jetzt bei ihm sein, mich in seine Arme kuscheln und die Ereignisse des Tages mit ihm besprechen. Und später … meine Wangen glühten, als ich an die hohe, altmodische Zimmerdecke starrte. Im Licht der Straßenlaterne zählte ich die Risse im Putz, um mich davon abzulenken, dass mein Herz plötzlich schneller schlug. Ja echt, prima Idee, nicht mit Alex das Bett zu teilen. Herzlichen Glückwunsch, Willow.
Dann erstarrte ich.
Ich konnte nicht einmal richtig beschreiben, was ich gerade gefühlt hatte – es war wie ein Brausen, als stünde ich am Ufer eines reißenden Flusses und spürte die Kraft seiner gewaltigen Strömung, die nur darauf wartete, mich umzuwerfen. Aber es war nichts, das vorbeifloss. Es floss mitten durch mich hindurch und zwar so mächtig und stark, als würde es mich mit sich ziehen, sollte ich es wagen, auch nur einen Zeh hineinzutauchen.
Das Gefühl hielt nur wenige Sekunden an, dann verebbte es. Stirnrunzelnd schloss ich die Augen, tauchte in mein Inneres hinab und machte mich auf die Suche. Nichts. Um ganz sicherzugehen, versuchte ich es erneut und durchstöberte jeden Winkel meines Bewusstseins. Die seltsame Energie war verschwunden, wenn sie überhaupt da gewesen war – es gab keine Spur von ihr. Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Okay, kleiner Psycho-Aussetzer.
Dann bemerkte ich, dass mein Engel unruhig wurde. Normalerweise blieb sie in meinem Inneren und wartete ab, bis ich zu ihr kam. Aber jetzt, auf einmal, war sie einfach da und beobachtete mich von innen heraus, während sie mit den Flügeln schlug.
Ich starrte zurück und fragte mich, was hier eigentlich los war. Seit wir eine Bindung zueinander aufgebaut hatten, war ihre Anwesenheit stets Balsam für meine Seele gewesen. Doch jetzt war die Stimmung anders. Nervös. Gereizt. Ihr leuchtendes Gesicht sah aus wie meins, trotzdem überlief es mich kalt: Ich musste erkennen, dass sich hinter ihrer Stirn Gedanken regten, die nicht meine waren. Gedanken, die ich nicht entziffern konnte.
Dieses Gefühl eines reißenden Kraftstroms, als wäre etwas zum Leben erweckt worden.
Verstört zog ich mich zurück und kroch tiefer unter die Decke. Ich horchte auf die Schlafgeräusche um mich herum und auf den leisen Verkehrslärm. Ich hatte nie zuvor bemerkt, dass mein Engel eigene Gedanken hatte, beziehungsweise, dass sie überhaupt irgendetwas dachte. Bislang waren sie und ich ein und dasselbe gewesen. Was war gerade passiert? Und was wäre gewesen, wenn ich mein Bewusstsein in ihres verlagert hätte? In das Bewusstsein meiner strahlenden Zwillingsschwester, die mir auf einmal wie eine Fremde vorkam?
Der Gedanke ließ mich erschauern. Ich hatte mich gerade eben erst so halbwegs an diesen anderen Teil von mir gewöhnt, und jetzt wirkte er auf einen Schlag so … fremdartig. Ich stieß die Luft aus. Hatte ich wirklich gerade erst darüber nachgedacht, wie menschlich ich war? Was für eine Ironie. Aber das Lachen blieb mir im Halse stecken.
Es dauerte lange, bis ich endlich einschlief. Doch selbst im Schlaf konnte ich die Ruhelosigkeit meines Engels spüren.
»Okay, heute will ich mir einfach nur ein Bild davon machen, was jeder von euch so kann«, verkündete Alex.
Wir standen in der Schießanlage. Das war ein lang gestreckter Raum im Erdgeschoss,
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