Hueter der Daemmerung
war auf Spanisch, aber augenscheinlich wies er auf die entstandenen Schäden hin. Steif saß ich auf dem ramponierten Sofa. Ich war nicht fähig, den Blick abzuwenden und war so froh, so unendlich froh, dass niemand außer Alex wusste, dass er mein Vater war.
»Dieser Wichser schon wieder«, murmelte Kara. Sie war abends oft mit Luis unterwegs, um an Informationen zu kommen, aber heute war sie zur Abwechslung einmal zu Hause. Sie hockte im Schneidersitz auf dem Sessel und lackierte sich die Zehennägel. »Wisst ihr, ich hasse alle Engel. Aber der da ist echt eine Nummer für sich. Jedes Mal wenn ich den sehe, würde ich am liebsten die Mattscheibe einschmeißen.«
»Da bist du nicht die Einzige«, sagte Alex neben mir auf dem Sofa. Er nahm meine Hand und drückte sie, als die Kamera durch die Kathedrale schwenkte. Überall standen Gerüste und mehrere Dutzend Arbeiter waren damit beschäftigt, den aufgeworfenen Fußboden und den eingestürzten Teil der Decke zu reparieren. Ich heftete den Blick auf die Stelle, an der ich vor weniger als zwei Wochen gekniet hatte, und bei der Erinnerung daran, wie es war zu sterben, krampften sich meine Muskeln zusammen.
Raziel erschien wieder auf der Bildfläche. Pechschwarzes Haar, ein kultiviertes, empfindsames Gesicht. Und schmale Hände mit langen Fingern, die sich tief in die Lebensenergie meiner Mutter gegraben hatten, als sie noch eine zwanzigjährige Musikstudentin an der New York University gewesen war. Während er sprach, liefen spanische Untertitel über einen Ticker am unteren Rand des Fernsehbildschirms. »Ja, die Reparaturarbeiten sind so gut wie abgeschlossen«, sagte er. »Wir freuen uns darauf, die Dinge wieder in geordnete Bahnen zu lenken und mit der ganzen Angelegenheit abzuschließen.«
»Und Sie, Sir? Sie behaupten doch, selbst ein Engel zu sein?«
Raziel schenkte der Kamera ein kleines, weises Lächeln. Auf einer seiner Wangen erschien so etwas wie ein Grübchen. »Das ist keine Behauptung, sondern schlicht und ergreifend die Wahrheit. Meine Art lebt nun mitten unter euch, um in diesen unruhigen Zeiten Hoffnung zu stiften.«
Hass ballte sich in meinem Magen zusammen. Meiner Mutter hatte er keine Hoffnung gebracht, so viel stand fest.
»Wird es in der Welt Veränderungen geben, jetzt, wo noch mehr Engel eingetroffen sind?«, fragte der Reporter. »Wird zum Beispiel in der Church of Angels alles beim Alten bleiben?«
Raziels huldvoller Ausdruck verschwand, als seine braunen Augen sich verengten – und mit einem Schlag blickte ich auf denselben todbringenden Engel, dem Alex und ich in der Kathedrale gegenübergestanden hatten. »Nein«, sagte er. »Es wird keine Veränderungen in der Kirche geben.« Sein Lächeln kehrte zurück, beinahe so freundlich wie zuvor, aber diesmal erkannte ich die Berechnung, die darin lag. »Keinerlei Veränderungen«, wiederholte er nachdrücklich. »Das verspreche ich.«
Ich unterdrückte einen Schauder. Eine Sekunde lang hatte es sich bizarrerweise so angefühlt, als hätte er mich angeschaut, so als ob er tatsächlich irgendwie durch den Bildschirm hindurchgucken könnte. Undeutlich spürte ich, wie sich mein Engel in mir regte, ein mittlerweile vertrautes Gefühl. Doch jetzt versuchte ich es beiseitezuschieben, denn plötzlich wurde mir widerlich bewusst, wie nichtmenschlich ich eigentlich war – mit diesem Ding in mir drin und Raziel zum Vater. Ich hatte geglaubt, mich bereits daran gewöhnt zu haben, aber da hatte ich mich gründlich getäuscht.
Wenigstens schien sich die Jagd auf uns ein wenig beruhigt zu haben, obwohl unsere Bilder auch weiterhin von Zeit zu Zeit über den Bildschirm flimmerten. Dann starrte ich jedes Mal auf mein Foto und fragte mich, wer das blonde Mädchen mit dem strahlenden Lächeln war. Kara zog Alex immer mit seinem grässlichen Phantombild auf, das ihn wie einen alternden Footballspieler aussehen ließ. Und wann immer es ihm gelang, sich ein wenig zu entspannen, revanchierte er sich für die Neckereien mit Geschichten aus ihrer gemeinsamen Zeit im Camp. Ich konnte die echte Zuneigung sehen, die sie füreinander empfanden, aber sie erschien mir so durch und durch geschwisterlich, dass der zärtliche, leuchtende Blick, mit dem Kara Alex neulich hinterhergeschaut hatte, mir vorkam wie ein verrücktes Hirngespinst.
Oder auch nicht.
Nach Alex’ Standpauke ließen die AKs mich zwar in Ruhe, aber sie ließen mich auch links liegen. Dabei waren sie untereinander alles andere als schweigsam. Sie
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