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Hueter der Daemmerung

Hueter der Daemmerung

Titel: Hueter der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L. A. Weatherly
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Jugendherberge in der Nähe des centro, sah er, dass heute der Tag der Revolution sein musste. Begleitet von schwungvoller Gitarrenmusik und Blasinstrumenten, schmetterten die Sänger einer Mariachikapelle ihre Lieder, und eine Parade von Schulkindern, die als Soldaten verkleidet waren, zog vorbei. Stolz präsentierten die mit Sombreros und Patronengurten ausstaffierten Jungen ihre aufgemalten Schnurrbarte. Die Mädchen steckten in langen bunten Röcken und schneeweißen Blusen und trugen das Haar zu Zöpfen geflochten. Hinter ihnen folgte eine Gruppe von älteren Mädchen in grünen T-Shirts, die tanzten und mexikanische Flaggen schwenkten.
    Mit seinem Rucksack über der Schulter schob sich Seb durch die Menschenmenge, die sich am Straßenrand versammelt hatte. Im Vorübergehen streiften ihn ein paar Engelsflügel. Heutzutage traf er überall auf jemanden, der diese Dinger trug, ganz gleich wo er hinging. Die Stimmung war ausgelassen und er musste sich durch die wogenden, hüpfenden Auren der Menge förmlich hindurchdrängen. Selbst die verkrüppelten, von den Engeln beschädigten Auren flimmerten vor Aufregung.
    Es war dieselbe Stadt, die er ein Leben lang gekannt hatte, und doch war sie wie ausgewechselt. Die Engel waren überall -das war ihm aufgefallen, wenngleich er den größten Teil seiner Zeit damit zubrachte, auf der Suche nach der Baumgruppe, die er im Traum des Mädchens gesehen hatte, durch den Bosque de Chapultepec zu wandern. Wie sich herausstellte, war das eine entmutigende Aufgabe. Der Chapultepec war einer der größten Stadtparks der Welt. Und während er suchte, verging selten eine Stunde, ohne dass Seb ein paar Engel erblickte, die wie weiße jagende Adler am Himmel ihre Runden zogen. Auch über dem Zócalo kreisten jedes Mal, wenn er daran vorbeikam, mehrere Engel. Andere nährten sich gleich auf dem Bürgersteig. Die Neugier hatte ihn kurz in die umgebaute Kathedrale getrieben (er konnte kaum fassen, was damit passiert war), und auch dort waren Engel auf der Jagd gewesen. Mittlerweile war es ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, seine Aura trüb und unattraktiv wirken zu lassen, dass er kaum noch darüber nachdachte.
    »Krankenhäuser für alle!«, rief eine Stimme. »Wir brauchen mehr Betten! Mehr Ärzte!« Er schaute über die Schulter, als er zwischen den tanzenden Mädchen und einem mit Blumen beladenen Eselskarren über die Straße flitzte, und sah eine große Gruppe näher kommen, deren Mitglieder Schilder trugen: El DF ist sterbenskrank. Wo sind die Ärzte? Und Geld für Ärzte, nicht für Engel!
    Auf der Stelle schlug die Stimmung der Menge um. Sie heizte sich auf und die Auren rund um ihn herum fingen beinahe an zu knistern. Eine Frau im Rollstuhl kreischte: »Wer an die Engel glaubt, dem helfen sie auch!« Ihre Wangen waren eingefallen, doch in ihren Augen loderte die Leidenschaft. Mehrere Stimmen pflichteten ihr lautstark bei und buhten die vorbeimarschierende Gruppe aus.
    Seb war froh, dem Ganzen zu entkommen und die Straße zu erreichen, in der seine Jugendherberge lag. Doch auch dort schienen Vorbereitungen für irgendeine Art von Tanzvergnügen getroffen zu werden. Eine Bühne wurde aufgebaut und von den schmiedeeisernen Balkonen hingen grün-weiß-rote Wimpelketten. Die Außenmauern der Jugendherberge waren irgendwann einmal hellbraun gewesen, aber die hohe Luftverschmutzung in der Stadt hatte ihre Spuren hinterlassen. Jetzt sahen sie grau und fleckig aus. Alex wusste, dass er Glück gehabt hatte, noch ein Bett zu ergattern. Wie jedes andere Hostel in der Stadt war nämlich auch dieses hier bis obenhin belegt von Church of Angels -Anhängern aus aller Welt, die die frisch renovierte Kathedrale besichtigen wollten. An ein paar von ihnen kam er auf dem Weg zu seinem Schlafsaal vorbei – drei hübsche französische Mädchen mit Engelsflügeln, denen er schon ein paarmal abends im Aufenthaltsraum begegnet war.
    »Bonsoir, Seb«, sagte die eine, Celine, mit einem koketten Lächeln, als sie vorübergingen. »Ca va toi?« Er rang sich ein Lächeln ab, erwiderte ihren Gruß und bemühte sich, nicht darauf zu achten, wie krank ihre Aura aussah. Die Nähe von Menschen, deren Aura von den Engeln geschädigt worden war, deprimierte ihn und er zog es vor, ihnen aus dem Weg zu gehen.
    Zum Glück war sein Schlafsaal leer. Seb streckte sich auf seinem Bett aus und starrte an die Decke. Er hatte in der vorigen Woche Geburtstag gehabt und war somit achtzehn Jahre alt. Er hatte nicht einmal

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