Hueter der Daemmerung
versuchte, sie ein, wenig zu verdecken. Beinahe auf Augenhöhe zog der Engel lautlos vorbei. Seb versuchte, so zu tun, als könne er ihn nicht sehen, aber sein strahlender Glanz brannte sich trotzdem in seinen Schädel ein – das hochmütige, wilde Gesicht; die mächtigen Flügel, die bläulichweiß zu leuchten schienen, mit ihren gestochen scharf konturierten Federn.
»Ich hab sie nämlich gestern mit ihren Freundinnen reden hören«, fuhr Mike fort. »Und wenn mich mein Schulfranzösisch nicht völlig trügt, hat sie gesagt, dass sie dich echt scharf findet. Hat sich gefragt, ob du ein Gläubiger bist oder nicht.« Er feixte. »Mein Rat lautet: Mach ihr was vor, Mann. Erzähl ihr, wie sehr du die Engel liiiiebst.« Seb hörte ihm nur mit halbem Ohr zu.
Unten auf der Straße hatte der Engel sein Opfer gewählt und landete zwischen den Feiernden.
Es war das Straßenmädchen.
Seb erstarrte verblüfft. Er hatte noch nie gesehen, dass ein Engel sich ein Kind ausgesucht hatte, um sich zu nähren. Pas Mädchen blickte mit einem Ausdruck ehrfürchtiger Freude zu dem Engel hinauf. Ihr Energiefeld war blassblau. Es zitterte wie eine Seifenblase und sah jung und schutzlos aus.
»Seb?« Er merkte, dass Mike ihn lachend anstieß. »Bist du eingepennt, oder was? Gott, ich wünschte, mir würden mal so viele wunderschöne Mädels hinterherhecheln, dass ich so cool bleiben könnte wie du.« Er strich sich nachdenklich über das Kinn. »Vielleicht liegt’s am Dreitagebart. Ich könnte jederzeit aufhören, mich zu rasieren …«
»Danke, aber ich kann nicht … ich muss morgen was erledigen.« Seb hörte seine Stimme die Worte aussprechen. Sie klang irgendwie ganz normal. Unten ging der Engel lächelnd auf das Mädchen zu und streckte seine leuchtenden Hände nach ihr aus. Ohne nachzudenken, verlagerte Seb sein Bewusstsein in seinen Engel und stürzte sich so schnell in die Tiefe, dass Lampions und Tänzer vor seinen Augen verschwammen.
Er landete vor dem Mädchen und spreizte die Flügel. Fauchend und flügelschlagend wich der Engel zurück. Es war ein männlicher Engel und er riss die Augen auf, als er bemerkte, dass Seb keinen Heiligenschein hatte. »Du … wie …«
»Diese hier nicht«, sagte Seb. Er hatte noch nie zuvor gesprochen, wenn er in seinem Engelskörper steckte, aber seine Stimme kam ohne zu zögern, leise und hart. Innerlich schrie er sich an: Was machst du da? Zum ersten Mal in deinem Leben bist du kurz davor, sie zu finden – und hierfür setzt du das aufs Spiel?
»Noch so einer!«, knurrte der Engel. »Halbmensch-Mutant -du dürftest nicht mal existieren!« Glühend vor Zorn ging er auf ihn los. Seb drängte ihn zurück, indem er mit seinen Flügeln nach ihm schlug. Er spürte, dass der Engel ihr Umfeld nach seinem menschlichen Körper absuchte. Er konnte das Aussehen seiner Aura tarnen, nicht aber ihre Ausstrahlung. Innerhalb weniger Sekunden würde der Engel sich auf ihn stürzen.
Nach einer kurzen, hektischen Attacke schoss Seb davon und wirbelte herum, um das Mädchen anzusehen. Ihre Augen waren riesig, voller Staunen. Ihr Blick ging direkt durch ihn hindurch. Ihm sank der Mut. Er hatte ihr zurufen wollen wegzulaufen, aber sie konnte ihn weder sehen noch hören – nur ihren Jäger, dessen Bewusstsein mit ihrem verbunden war. Hinter seinem Rücken hörte er den Engel triumphierend aufschreien. Er hatte Sebs menschlichen Körper gefunden. Wenn es Seb nicht irgendwie gelang, ihn zu vernichten, würde der Engel ihn töten und sich dann trotzdem von dem Mädchen nähren.
Nein, dachte er und starrte in ihr kleines schmutzverschmiertes Gesicht. Vieles war in seinem Leben passiert, das er nicht hatte verhindern können – aber das hier würde er verhindern.
Oben auf dem Balkon hatte Mike eine Augenbraue gehoben. »Ach, wirklich? Was wäre denn besser als mit drei französischen Mädchen abzuhängen, die dich scharf finden? Das würde ich echt gerne wissen.«
Ohne zu antworten richtete sich der menschliche Seb auf, drückte Mike sein Bier in die Hand und rannte genau in dem Moment los, als er den Engel auf sich zukommen sah. Er stob aus dem Schlafsaal, stürmte durch den Flur und raste die Treppe hinunter. Nur wenige Sekunden später stürzte er aus der Eingangstür. Der Engel war nirgendwo zu sehen. Er glitt auf der Suche nach ihm durch das obere Stockwerk des Hostels.
Und während er das tat, hatte er, zumindest für den Augenblick, seine Verbindung zu dem Mädchen gekappt.
Seb kam mit
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