Hueter der Daemmerung
Sekunde lang fühlte sich sein Arm an, als stünde er in Flammen. Explodierendes Licht riss ihm die Füße weg. Die Schreie des Engels gellten ihm in den Ohren.
Dann war er verschwunden.
Schwer atmend blieb Seb auf dem Bürgersteig liegen, während die Überreste der Kreatur über den Köpfen der Tanzenden zart funkelten. Er holte seinen Engel zurück zu sich und genoss das Gefühl, ihn sicher in sich zu spüren. Er hatte es geschafft. Irgendwie hatte er es geschafft. Das Halbengel-Mädchen blitzte in seinen Gedanken auf. Und die Erkenntnis, dass er noch am Leben war, dass er immer noch die Chance hatte sie zu finden, war wie ein Kopfsprung in einen klaren Bergsee.
»Äh … Seb?« Mike hockte neben ihm. »Bitte sag mir, dass das eine Art mexikanischer Volkstanz war, okay? Und dass du nicht wirklich gerade ohne jeden ersichtlichen Grund mit einem Springmesser in der Gegend rumgefuchtelt hast.«
Seb lächelte. Es kostete ihn Mühe, sich aufzusetzen. Er umklammerte immer noch das Messer. Er ließ die Klinge zuschnappen und steckte es wieder in seine Hosentasche. Dann nahm er Mike sein Bier aus der Hand und trank einen tiefen Schluck. »Volkstanz«, sagte er in das Geträller und das Gitarrengeklimper hinein, das ringsherum in die Nacht stieg. »Definitiv ein Volkstanz.«
Mike schüttelte den Kopf. Er ließ sich im Schneidersitz neben Seb auf dem Bürgersteig nieder und sagte: »Ihr Mexikaner seid echt seltsam.«
»Aber du magst uns.«
»Ja, wahrscheinlich bin ich selbst seltsam.«
Seb schaute auf die Tänzer, betrachtete das Auf und Ab ihrer bunten Auren, während sie vorüberhüpften – und war sich im Klaren darüber, dass er irgendwann in naher Zukunft über das, was er gerade getan hatte, würde nachdenken müssen.
Er hatte sich immer eingeredet, dass die Engel den Menschen durch ihre Berührung wenigstens etwas zurückgaben. Allerdings – wenn er wirklich daran glaubte, dass dies einen Unterschied machte, warum versuchte er dann, jeden Menschen, den er jemals getroffen hatte, vor ihnen zu beschützen? Warum hatte er gerade sein Leben für die niiiita riskiert, wenn er nach achtzehn Jahren möglicherweise zum ersten Mal kurz davor war, sich seinen einzigen Herzenswunsch zu erfüllen? Wenn er zugelassen hätte, dass das Ding sich von ihr nährte, wäre das Straßenmädchen für immer glücklich gewesen, ganz gleich, wie sehr ihre Gesundheit darunter gelitten hätte. Doch jetzt hatte sie wenigstens die Wahl. Vielleicht würde sie die Straße hinter sich lassen können, wohlbehalten und unversehrt, und ein Glück finden, das mehr Bestand hatte und realer war als alles, was die Berührung der Engel ihr geben konnte. Verblüfft schüttelte Seb den Kopf, als ihm bewusst wurde, dass er, falls nötig, wieder ganz genauso handeln würde.
»Echt eine nette Nacht«, sagte Mike und klopfte sich im Takt der Musik auf den Oberschenkel. »Tanz auf der Straße, Lampions. Nett.«
»Ja«, stimmte Seb zu. Er verstand sich selbst nicht, nahm aber an, dass das nichts machte. Er schob eine Hand in seine Tasche und berührte den Messingrahmen des Fotos, strich mit den Fingern über die glatte weiche Oberfläche. Und er wusste, sein Halbengel-Mädchen würde es verstehen, wahrscheinlich sogar viel besser als er selbst. Er konnte ihr Mitgefühl spüren, sowohl für das Straßenmädchen, als auch für ihn. Konnte die Wärme in ihren grünen Augen sehen. Er stieß die Luft aus und sog das Gefühl, sich ihr so nahe zu fühlen, in sich auf. Er brauchte sie, hatte sie immer gebraucht. Irgendwie wusste er, dass auch sie ihn brauchte.
Ich werde dich finden, dachte er. Es war ein Versprechen, das er ihnen beiden gab.
Doch fürs Erste reichte es, einfach den Tanzenden zuzuschauen und sich an ihrer Fröhlichkeit zu freuen.
10
»Okay, der Empfang wird hier drin stattfinden«, sagte Kara und streckte einen Finger aus. Wir saßen rund um den Küchentisch vor unseren Kaffeebechern und schauten auf Brendans Laptop. Er hatte im Internet Grundrisse des Hotels gefunden. »Zuerst gibt es einen Privatempfang nur für die Würdenträger der Church of Angels, bis dann auch niederes Volk wie wir Zutritt erhält.«
Alex und ich waren jetzt seit gut zwei Wochen dort und allmählich schien sich tatsächlich ein Plan herauszukristallisieren. Luis, der seine anfängliche Zurückhaltung Kara gegenüber abgelegt hatte, war wesentlich mitteilsamer geworden. Er fing nicht nur an, über die Sicherheitsvorkehrungen zu plaudern, sondern hatte Kara
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