Hueter der Daemmerung
rutschenden Sohlen vor ihr zum Stehen. Er hockte sich hin, damit er ihr in die Augen sehen konnte. Sie wirkte immer noch benommen – ein glückliches Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie dem Engel hinterherschaute. Er packte sie an den mageren Schultern und schüttelte sie wild. »Lauf, nina! Stell keine Fragen – hau einfach ab – los!«
Er gab ihr einen Schubs. Das Mädchen schnappte nach Luft und schien wieder zu sich zu kommen. Mit einem verängstigten, erschrockenen Blick rannte sie davon und verschwand in der Menge.
Sebs Engel schwebte über ihm und wartete auf den Moment, an dem die Kreatur wieder auftauchen würde. Sein menschliches Selbst erhob sich langsam, den Blick auf das Hostel gerichtet.
Für einen Fluchtversuch war es zu spät. Der Engel wusste, dass er hier war und würde nichts unversucht lassen, um ihn aufzuspüren – und außerdem stand sein Rucksack noch da oben. Mit dem Shirt des Mädchens. Das konnte er nicht zurücklassen. Undeutlich nahm er Mike wahr, der vom Balkon aus zu ihm herunterglotzte; die ausgelassene Musik; die Tänzer, die immer noch vorüberwirbelten.
Der Engel kam aus dem Gebäude gefegt. Fast augenblicklich sah er Seb unten auf der Straße stehen und sein schönes Gesicht verzerrte sich vor Wut. Sebs Engel zischte vorbei. Das Wesen brüllte und ging zum Angriff über, sein Körper aus Licht loderte.
Die zwei fochten hoch oben in der Luft, über den tanzenden Menschen, einen erbitterten Kampf aus. Unter heftigem Flügelschlagen rangen sie miteinander. Seb spürte die knisternde Energie des Engels, wenn ihre Flügel sich streiften. Der Heiligenschein. Er musste den Heiligenschein erwischen, denn auf diese Weise hatte er den einzigen anderen Engel, mit dem er je gekämpft hatte, besiegt. Aber die mächtigen Flügel der Kreatur hielten ihn auf Abstand, während sie sich in der Luft umeinanderdrehten und -wanden – der Engel, der versuchte, Sebs menschliche Hülle mit ihrer verletzlichen Lebensenergie zu erreichen und Seb, der sich verbissen abmühte, an diesen schimmernden, pulsierenden Kreis heranzukommen.
»Hey, was ist los? Bist du okay?« Mike war herausgelaufen und stand jetzt neben ihm auf der Straße, beide Bierflaschen in der Hand. »Kumpel, siehst du Gespenster oder was?«
Seb schüttelte den Kopf. Er konnte seinen Blick nicht von dem unsichtbaren Kampf dort oben losreißen. Sein Engel war schnell und stark, aber Seb spürte, dass er müde wurde. Der Engel fletschte ihn an, als sie erneut aufeinanderprallten, und stieß mit den Flügeln nach ihm.
»Mir geht’s gut«, brachte er mühsam heraus. »Mike, geh rein. Bleib nicht hier draußen.«
Mike lachte unsicher. »Was? Ist das hier schon wieder so eine gefährliche Gegend? Wie Tepito? Oh ja, all diese gruseligen Omas und Opas, die hier vorbeitanzen – man weiß nie, was denen in den Sinn kommen könnte.«
Seb setzte zum Sprechen an, als es ihn kalt überlief. Er wusste, es war zu spät – der Engel hatte Mike entdeckt. Er sah, wie sich seine Augen verengten und mit noch größerer Wildheit warf er sich auf Sebs Engel und versuchte, an ihm vorbeizukommen.
NEIN! Irgendwie gelang es Sebs Engel, ihn aufzuhalten. Seine Flügel blitzten im Licht der Lampions. Der Engel entwischte zur Seite, Seb setzte ihm nach, doch er riss sich los und schoss direkt auf Mike zu – nicht um sich zu nähren, sondern um ihn mit aller Kraft anzugreifen.
Seb begriff den Plan auf Anhieb, wusste, dass es eine Falle war – aber er konnte nicht zulassen, dass Mike, der doch nur hatte sehen wollen, ob es Seb gut ging, verletzt wurde. Seine Engelsgestalt raste in einem Affenzahn heran und warf sich schützend vor Mike. Er breitete die Flügel aus und wehrte den Engel ab, der in einem rasenden Taumel aus Licht gegen ihn antobte. Mike redete immer weiter, blind für das Drama, das sich nur wenige Meter entfernt vor seinen Augen entspann.
Dem menschlichen Seb schlug das Herz bis zum Hals. Er schob die Hand in die Gesäßtasche seiner Jeans und seine Finger schlossen sich um sein Springmesser.
Genau wie er es vorausgesehen hatte, griff der Engel ihn an, während sein eigener Engel noch damit beschäftigt war, Mike abzuschirmen. Seb handelte instinktiv. Er sprang zur Seite, um den ausgestreckten Händen des Engels auszuweichen, ließ sein Messer aufschnappen und stach zu, bevor der Engel ihn mit seinem Flügel einen Schlag versetzen konnte. Die Klinge glühte weiß auf, als sie tief in den Heiligenschein fuhr und eine quälende
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