Hueter der Daemmerung
daran gedacht, erst einen Tag später war es ihm wieder eingefallen. Das Einzige, woran er denken konnte, war das Halbengel-Mädchen – sie war ihm jetzt so nahe, dass er sie beinahe spüren konnte, doch irgendwie schien sie auch ferner denn je. Zu wissen, dass sie wahrscheinlich hier war, hier in dieser Stadt – höchstens noch ein paar Kilometer weit von ihm entfernt – aber keine Ahnung zu haben, wo genau, war eine Qual.
Er tastete nach dem gerahmten Foto in seiner Hosentasche, ein kleines, kompaktes Rechteck. Er musste es gar nicht hervorholen, um sich das Bild des Mädchens wieder ins Gedächtnis zu rufen. Er hatte es mittlerweile im Kopf. Ihr Geist war bereits bei ihm, wie seit vielen Jahren schon. Und seit er ihr Shirt berührt hatte, in dem noch der leise Nachhall ihrer Energie hing, hatte sich dieser Eindruck weiter verstärkt: Aus einer Schwarz-Weiß-Zeichnung war ein farbenprächtiges, lebendiges Gemälde geworden. Seb strich sich die Haare zurück, während er den schmuddeligen Deckenverputz betrachtete. Gott, er liebte ein Mädchen, mit dem er noch nicht einmal gesprochen hatte. Aber er kannte sie, kannte sie in- und auswendig.
Konnte sie ihn genauso intensiv spüren? Hatte auch sie zeitlebens einen Schatten geliebt?
Draußen hatte Musik eingesetzt. Mit einem rastlosen Seufzer schwang Seb die Beine vom Bett und ging zu der altertümlichen Balkontür hinüber. Sie knarrte, als er sie öffnete und auf den kleinen schmiedeeisernen Balkon hinaustrat. Unten auf der Straße fingen Pärchen an zu tanzen. Papierlaternen spendeten festliches Licht. Seb stand am Geländer und schaute hinunter.
Tagsüber hatte er nur ein Ziel vor Augen. Meistens suchte er im Bosque de Chapultepec, aber er ging auch in andere Parks. Pausenlos scannte er seine Umgebung ab und erlaubte sich nicht, auch nur eine Sekunde lang die Hoffnung aufzugeben, dass er sie finden würde. Es waren diese anderen, ruhigeren Momente, in denen ihn die Zweifel überfielen und ihm eiskalt wurde. Was, wenn er den Traum des Mädchens falsch verstanden hatte? Was, wenn der Park, den er gesehen hatte, gar nicht in el DF lag, sondern ganz woanders? Sie war Amerikanerin, es konnte sich genauso gut um irgendeinen Ort in ihrem Land handeln – das sich über Zigtausende von Kilometern erstreckte und höchstwahrscheinlich mehrere Millionen Parks beherbergte. In diesem Fall würde er sie aller Voraussicht nach niemals finden. Und zu wissen, dass sie wirklich existierte, dass sie kein Traum war, aber sie niemals aufspüren zu können … Seb schluckte. Nein. Das würde er nicht glauben. Das konnte er nicht.
Hinter ihm ging die Tür auf. »Oh, hi, Seb«, sagte eine Stimme.
Mike, einer der Amerikaner, der mit im Schlafsaal wohnte -und einer der wenigen Menschen im Hostel, den die Engel verschont hatten. »Hi«, sagte Seb vom Balkon aus. Mike kam zu ihm heraus. Er war neunzehn Jahre alt, hatte weiches braunes Haar und ein freundliches Lächeln.
»Und, was ist hier eigentlich los?«, fragte er, legte die Unterarme auf das Geländer und beguckte sich das Straßenfest. »Ist das so was wie der 4. Juli bei uns zu Hause?«
Mit einiger Anstrengung schob Seb seine Gedanken beiseite und versuchte sich daran zu erinnern, was er über diesen amerikanischen Feiertag gehört hatte. »Was ist der 4. Juli? Da gibt’s Feuerwerk bei euch, oder?«
Auf diese typische Art, die Amerikaner manchmal hatten, schien Sebs Unwissenheit Mike zu überraschen – obwohl er keinen blassen Schimmer hatte, was der Tag der Revolution war. »An dem Tag sind wir von Großbritannien unabhängig geworden«, erklärte er. »Du weißt schon – die Boston Tea Party, Paul Revere. Und klar, jede Menge Feuerwerk.«
Seb nickte, jetzt fiel es ihm wieder ein. »Ja, so ähnlich«, sagte er. »Es wird der Tag gefeiert, an dem wir angefangen haben, uns gegen den dictador Porfirio Diaz zu erheben. Später haben wir ihn gestürzt.«
»Ihr habt einen Diktator gestürzt? Cool«, sagte Mike fröhlich. »Ist ja auch egal, Hauptsache Party, oder?«
Seb musste unwillkürlich lachen. »Stimmt, wenn man Mexikaner ist. Wir mögen Partys.«
»Mann, da seid ihr nicht die Einzigen. Du solltest mal nach Amerika kommen. Die Leute dort lieben Partys.«
Seb wusste, dass er genau das wohl eines Tages würde tun müssen, wenn seine Suche in el DF erfolglos bliebe. Doch wie sollte er es jemals über sich bringen, die Stadt zu verlassen, wenn sich der restliche Traum des Mädchens doch so eindeutig hier abgespielt
Weitere Kostenlose Bücher