Hüter der Flamme 06 - Die Straße nach Ehvenor
besaßen. Er kniete sich über den kleinen Hund.
An den Hund selbst kann ich mich kaum erinnern - ich habe weggesehen.
Aber ich erinnere mich an den Ausdruck in Dr. Macs Gesicht, als er die Spritze aufzog: er zeigte nicht nur ernsthafte Hingabe, sondern einen schnellen, aber nicht überhasteten Sachverstand. Ich mißdeutete besagten Gesichtsausdruck und griff nach Steves Arm. »Er kann ihn retten!«
Steve schüttelte den Kopf. »Nein, er nimmt dem Hund die Schmerzen.«
Da war der gleiche Ausdruck in Andreas Gesicht, als sie still im Staub kniete, vor sich Teile von Knochen, Schnäbeln und Federn, die in der Form eines überfahrenen Vogels ausgestreut waren.
Mit ärztlicher Sorgfalt reinigte sie die Unterseite ihres linken Daumens; dann stach sie mit der scharfen Spitze eines Messers hinein, das sie sich von Tennetty geliehen hatte. Sie ließ ein, zwei, drei dicke Bluttropfen herausquellen und in den Staub und den Wolfskot fallen.
Feuer flammte auf, als sie sprach. Zunächst in einem leisen Murmeln; dann wurde ihre Stimme lauter und klarer. Sie sprach Worte, die nur gehört, aber niemals erinnert werden konnten, glatte Silben, die am Ohr und der Erinnerung vorbei verschwanden. Die Fackeln flackerten höher, als sie die flüchtigen Verse herausschrie.
Für einen Augenblick, nur für einen einzigen Augenblick dachte ich, daß nichts geschehen würde. Es gibt einen Teil in mir, der nicht wirklich an Magie glaubt.
Aber dann krümmte sich eine Feder, und ein Knochensplitter fing an zu vibrieren, und die gekrümmte Feder erhielt Gesellschaft von einer weiteren, die weiß und durchscheinend wie der Knochen aussah. Und dann fügte sich noch eine dazu und noch eine. Teile von Federn und Knochen, die zugleich Wirklichkeit und bleiches Trugbild waren, vereinigten sich zu einem Vogel und schwangen sich in die Lüfte.
Ahira und Tennetty saßen schon auf ihren Pferden; die stumpfen Enden ihrer Speere ruhten auf den Steigbügeln.
Andrea erhob sich. Im Licht der Fackeln leuchtete ihr Gesicht bleich und verschwitzt. »Schnell jetzt«, zischte sie hastig, »der Vogel wird versuchen, sich auf halbem Weg zwischen mir und dem Wolf zu halten. Wir müssen uns beeilen.«
Wir galoppierten auf die untergehende Sonne zu.
Nur um mal deutlich zu machen, was für ein Hammel ein Kerl aus New Jersey sein kann - ich dachte doch tatsächlich, daß ein galoppierendes Pferd zu reiten ungefähr das gleiche sei, wie ein schnelles Auto zu fahren. Ja, ich glaubte, man müßte sich nur Sorgen darum machen, nicht in irgendwas hineinzureiten, aber nicht um die eigene körperliche Belastung, höchstens um die des Pferdes.
O ja, ich wußte schon 'ne Menge damals.
Wir galoppierten Wege hinunter, jagten quer über Felder, ohne uns um Flurschäden zu kümmern, aber immer das Unheil vor Augen, das eine Meute Wölfe unter dem örtlichen Viehbestand anrichten konnte. Trotzdem vermieden wir, quer durch die Wälder zu reiten.
Vor uns flatterte, gerade noch sichtbar, der Vogel. Er verzögerte ständig, flog aber immer ein bißchen zu schnell, immer ein bißchen zu weit vor uns, so daß wir die Pferde nicht langsamer laufen lassen konnten. Auf einem schnell galoppierenden Pferd zu reiten ist ganz schön anstrengend.
Ja, meine Stute übers prang zwar die Entwässerungsgrä ben, aber ich mußte mich dabei auf ihrem Rücken halten, und die Landung war genauso hart für mich, als hätte ich den Sprung selbst getan. Ganz abgesehen davon, daß der Sattel des gewöhnlich im Handgalopp und nur zeitweise im Vollgalopp laufenden Pferds drohte, mir das Steißbein in den Schädel zu rammen.
Ich war drauf und dran, nach einer Rast zu verlangen - als Ausrede wollte ich vorbringen, daß ich dachte, die Pferde könnten nicht mehr - , als der Vogel am Rande eines Feldes genau auf einem knorrigen Baumstumpf landete und sich dann in eine Wolke von Federn und Knochen auflöste.
Ich schaute zu Andrea hinüber.
Sie nickte; der Spruch hatte sich aufgelöst, weil wir angekommen waren und nicht, weil die Magie erschöpft war.
Die untergehende Sonne verschwand hinter den Bäumen, und in ihrem Schatten wurde es dunkel und unheimlich.
Ahira war mit seinem Eberspieß in der Hand bereits abgestiegen. Er rammte ihn in den Boden, griff nach seiner Armbrust, spannte sie schnell und legte einen Bolzen ein.
»Tennetty, halte du deinen Speer bereit, aber holt Gewehr und Bogen heraus. Andrea, die Flinte entsichern ...«
Ich glitt aus dem Sattel und spannte meinen Bogen.
Ahira
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