Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Achseln und begann mühelos, den Bauchraum des Toten zuzunähen.
Huber kam näher. »Schon möglich, obwohl die Verbindung völlig unklar ist. Ich muss erst mal herausfinden, was es mit diesem Ding, dieser Lanze auf sich hat. Deshalb ist Frau Grassetti hier. Sie ist eine Spezialistin auf dem Gebiet mittelalterlicher Waffen.« Roulet sah anerkennend zu ihr rüber. Eine hübsche Frau, die ohnehin noch klug war, das weckt auch noch bei Achtundfünfzigjährigen Interesse.
»Woran stirbt man eigentlich bei solch einem Stich?« Raphaelas Gedanken galten mehr ihrem Onkel als diesem Unbekannten auf dem blanken Tisch.
Ohne das Nähen zu unterbrechen, antwortete Roulet. »Je nachdem, wo der Stich landet. Bei einem Stich in die Lunge kollabiert sie, fällt in sich zusammen. Bei einem Stich mehr in der Mitte, also in etwa hier in der Magengegend verblutet man. Der Tod setzt circa nach zehn Minuten ein. Das Hauptproblem ist, dass die Magensäure in den Brustraum eindringt und den Körper von innen …« Roulet machte eine erklärende Bewegung. Huber verzog das Gesicht.
»Zehn Minuten«, hauchte Raphaela.
»Dieser Wert bezieht sich auf herkömmliche Messerverletzungen. Ein Stich dieses Ausmaßes kann auch schneller zum Tod führen.«
»Sind wir fertig hier?«, wandte sie sich fragend an Huber, der sich noch das Taschentuch vor die Nase hielt und nickte.
»Servus, Roulet. Man sieht sich.«
»Auf Wiedersehen, Frau Grassetti. War nett, Sie kennenzulernen.« Raphaela hob die Hand und winkte kurz. Ihr war nicht nach Konversation und erst recht nicht nach Flirten zumute.
Als Huber und Grassetti im Wagen saßen, hämmerte Huber mit der Faust auf sein Lenkrad. »Ich bin wirklich eine Flasche«, schnaubte er und schaute aus dem Fenster. »Ein Bulle bei der Mordkommission, der keine Toten sehen kann. Paradox, nicht?«
Raphaela hatte Huber als typischen Macho eingeschätzt, doch diese Ehrlichkeit machte ihn sympathisch. Nun war das Eis zwischen ihnen gebrochen.
»Sie haben sich doch diesen Job ausgesucht, oder nicht?«, fragte sie schlicht.
»Nicht direkt. Man springt mal von einer Abteilung in die nächste, und hier bin ich geblieben, weil keiner den Job machen will. Ständig Leichen zu sehen in den verschiedensten Varianten? Wem macht das schon Spaß?«
»Was halten Sie davon, wenn wir einen Kaffee trinken gehen. So toll fand ich es ehrlich gesagt auch nicht.«
Huber schaute sie an und bemerkte mit Freude, dass sie entspannter als zuvor auf dem Beifahrersitz saß.
»Ich glaube, das ist keine gute Idee. Ich hab noch eine Menge Arbeit auf dem Schreibtisch liegen. Ich ruf Sie an – morgen oder so.«
Grassetti nickte und blickte in die Ferne. »Einverstanden.«
»Steht Ihr Wagen am Präsidium?«
»Ja.«
Sie bogen in die Straße ein, in der sie ihren Wagen geparkt hatte. Huber lenkte den Wagen an den rechten Fahrbahnrand und ließ sie aussteigen.
»Bis bald«, sagte sie und ging zu ihrem Wagen. Huber sah ihr einen Moment lang nach. Er wollte nicht neugierig wirken, obwohl er es war. Sie stieg in einen silbernen Mercedes SLK – und sein Bild von ihr rundete sich ab.
Im Büro schob Huber einen dicken Haufen Akten zur Seite und zog den Ordner »Burgner« zu sich heran. Widerwillig öffnete er ihn. Eine Weile vergrub er sich in der Beschreibung des entwendeten Objektes und den Fotos der Lanze. Er persönlich nannte sie nicht »Reliquie« oder »Heilige Lanze«, sondern sprach lieber von »Diebesgut«, »Museumsstück« oder »entwendetes Objekt«. Falkner trat, ohne anzuklopfen, in Hubers Büro ein und sah ihn erwartungsvoll an. Eine qualmende Zigarette hing in seinem Mundwinkel.
»Und?«, fragte er Huber.
»Nun ja, es ist genau so, wie wir dachten. Das zweite Opfer ist mit derselben Waffe umgebracht worden wie das Erste.« Huber zuckte gelangweilt mit den Schultern.
»Das meinte ich nicht«, grummelte Falkner. »Wie ist sie so?« Huber blickte seinen Chef zunächst verständnislos an. Als er begriff, was der wollte, sagte er: »Sie ist nicht dumm, und hat auch noch ne’ Menge Kohle auf dem Konto.« Er sah zu ihm auf.»Können Sie den Fall nicht doch einem anderen Kollegen geben?«
Falkner antwortete nicht. In seiner Verzweiflung holte Huber zu einem weiteren Schlag aus. »Was ist eigentlich mit Ihnen? So weit ich weiß, ist so etwas Chefsache, oder?«
Falkner setzte sich auf die Schreibtischkante und lehnte sich zu Huber herunter. »Jetzt jammern Sie nicht so rum. Die Frau ist klasse.« Er nahm die Zeitung zur Hand,
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