Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
gar nicht besessen haben.«
»Was passiert denn Ihrer Meinung nach, wenn sie sie erst einmal haben.«
»Nicht auszudenken. Wenn Sie sich mit der Geschichte und der Mystik dieser Lanze beschäftigt haben, dann wissen Sie, dass schon die psychologische Wirkung der Lanze ausreicht, um das Fass zum Überlaufen zu bringen – unabhängig davon, ob ihr tatsächlich eine magische oder spirituelle Wirkung anhaftet. Wenn die Mitglieder von ›THE Lu‹ die Lanze in ihre Gewalt bekämen, würden sie ganz offen für ihre Ideen werben. Sie können sich vielleicht vorstellen, was für eine Welle des Antisemitismus über die Erde schwappen würde. Diese Bewegung betreibt Hetzpropaganda gegen Farbige, Juden und Kommunisten, genau so wie es die Nazis damals getan haben, nur dass sie sich dabei das karikative Mäntelchen überzieht und in der Politik genauso vertreten ist wie im Kulturleben. Die Mitglieder sind fest davon überzeugt, dass die Gesellschaft der Erde geheilt und von der Unreinheit des Blutes befreit werden muss. Sie wollen den reinen Menschen züchten, den Übermenschen.«
»Mir ist trotzdem noch nicht klar, welchen Dienst ihnen dabei die Lanze leisten würde«, hakte Huber nach.
Gambrioni rückte seinen mächtigen Leib im Sessel zurecht. »Mit diesem Speer ist die Legende verbunden, dass derjenige, der ihn besitzt, das Schicksal der Welt im Guten wie im Bösen in seinen Händen hält. Er fühlt sich also von Gott beauftragt, bei allem, was er tut. Verstehen Sie jetzt, warum verständlicherweise nur der Vatikan und nicht diese teuflische Bruderschaft die Lanze besitzen sollte?«
Huber wurde nachdenklich. Während der Kardinal ausführlich die Lauterkeit des Vatikans betonte, stiegen in dem Kommissar alte Emotionen auf. Er war ja nicht nur kein Katholik, sondern hatte ein ganz persönliches Problem mit der Institution Kirche. Dieses Problem hinderte ihn nicht nur daran, gebührenden Respekt vor jedem Vertreter der Kurie zu hegen, sondern entpuppte sich in diesem Moment als unbändiger Hass. Ein Hass, der ihn nicht verlassen hatte und tiefe Wurzeln in seiner Seele verankert hatte. Wütend unterbrach er den Würdenträger: »Entschuldigen Sie, Herr Kardinal, aber es ist nicht für jeden selbstverständlich, dass gerade der Vatikan die Weltherrschaft ausüben sollte! Sie stellen die Kurie zwar so dar, wie sich der Papst selbst auch gern sieht: als unfehlbar! Doch die Vergangenheit hat ja wohl gezeigt, dass die katholische Kirche weit davon entfernt ist, diesem Anspruch gerecht zu werden.«
Gambrioni sah ihn verwirrt an und fragte sich, was diese Äußerung mit dem Verschwinden und Wiederauffinden der Lanze zu tun hatte. Doch Huber war noch nicht am Ende. Er hatte gerade erst angefangen. »Außerdem …«, hielt er Gambrioni vor. »… seit wann setzt sich der Vatikan eigentlich so uneigennützig für das Wohl des jüdischen Volkes ein? Von wegen Antisemitismus und so. Ich kann ja nachvollziehen, warum sie nicht möchten, dass so ein Verein an die Macht kommt. Auch, wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass die Welt noch einmal auf solche Typen reinfällt. Aber wenn wir für Sie die Lanze finden sollen, dann spielen Sie doch bitte ein ehrliches Spiel mit uns. Könnte es nicht einfach sein, dass Sie die Lanze aus demselben Grund beanspruchen wie dieser komische Orden?«
Gambrioni sah ihn erneut fragend an. Huber befand sich in einer Stimmung, in die er stets hineinrutschte, wenn Heuchelei im Spiel war. »Ganz einfach, es geht um Macht, um den Legitimationsanspruch der katholischen Kirche? Und da interessiert mich schon: Steht ihre Macht schon auf so wackeligen Beinen, dass Sie das nötig haben? Wenn ich mich recht entsinne, hat Papst Pius XII. die Lanze doch schon einmal besessen – und er schneidet bis heute nicht besonders gut ab, wenn es um die Frage geht, wie viele Gräueltaten er hätte verhindern können, falls er nicht feige geschwiegen hätte.«
Raphaela lehnte sich auf dem Sofa zurück und drückte sich tief hinein, als wolle sie vor Scham versinken. Huber aber hielt dem wütenden Blick des Kardinals stand. Der hätte sich solche Äußerungen nicht gefallen lassen müssen, beschloss aber, in die Diskussion einzusteigen. »Pius hat geschwiegen, damit nicht noch mehr Unheil geschieht.«
»Ja, ich weiß«, entgegnete Huber in ehrlicher Empörung. Er lehnte sich zum Kardinal vor. »Ich kenne diese Ausflüchte. Das wird landläufig immer gern erwidert. Aber allein schon mein gesunder Menschenverstand sagt
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