Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
mir, dass diese Ausrede – wenn ich das mal so formulieren darf – völliger Unsinn ist. Wo ist denn da die Logik? Seit wann ist Schweigen das richtige Mittel, Unrecht zu verhüten? Seit wann wird ein Appell an die Menschlichkeit und an das Gewissen das Gegenteil bezwecken? Die katholische Kirche war und ist eine mächtige und einflussreiche Organisation mit einem verzweigten Netzwerk.«
Gambrioni wollte etwas erwidern, doch Huber ließ ihn nicht zu Wort kommen. Raphaela fragte sich inzwischen, was Alois dazu trieb, hier eine derartige Abrechnung vorzunehmen. So hatte sie ihn bisher nicht kennengelernt. Tiefe Verachtung, ja, Schmerz schien Huber anzutreiben, seine Rolle als Polizist und die Lanze gänzlich zu vergessen und eine derartig unpassende Diskussion mit dem Kardinal anzuzetteln.
Huber aber fuhr unbeirrt fort. »Stellen Sie sich mal vor, was passiert wäre, wenn Papst Pius seine Schäfchen, die Kardinäle, die Bischöfe, die einfachen Priester, ja, wenn er alle Katholiken dazu aufgefordert hätten, den Massenmord am jüdischen Volk zu verurteilen. Glauben Sie nicht, dass alle seinem Appell gefolgt wären? Er ist doch der Oberhirte, ein Vorbild, eine Leitfigur.« Huber lehnte sich für einen Augenblick zurück und holte zu einem erneuten kraftvollen Schlag aus. »Was wäre passiert, wenn von jeder katholischen Kanzel der Mord an den Unschuldigen verurteilt worden wäre? Hätten dann nicht alle guten Katholiken aufgehorcht? Wären sie nicht wachsam geworden? Hätte nicht ihr Gewissen reagiert, wenn es etwa darum ging, ob sie ihre jüdischen Nachbarn denunzieren oder nicht?« Huber stand auf. Er hatte sich so aufgeregt, dass ihm der Schweiß auf der Stirn stand, und atmete heftig.
»Meine Güte, Alois. Warum regst du dich denn so auf?«, fragte Raphaela anteilnehmend. Sie stand ebenfalls auf und stellte sich neben ihn. Sie wusste nicht, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte. Huber schoss einen Pfeil nach dem anderen auf die Kirche ab, die sie liebte und verehrte, und sie bewunderte ihn zugleich dafür, dass er Dinge aussprach, die so lange unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit gegärt hatten. Sie trat zu ihm und legte ihre Hand auf seine Schulter. Auch der Kardinal hatte an diesem Tag nicht damit gerechnet, das Ansehen der katholischen Kirche beschützen zu müssen.
Abrupt drehte sich Huber zu ihr und dem Kardinal um, öffnete den Mund und wollte eine weitere Salve abfeuern. Doch im letzten Moment riss er sich zusammen und sagte nur kurz: »Mein Großvater ist von den Nazis umgebracht worden. Er war Jude – und wurde von Katholiken, die eigentlich seine Freunde waren, verraten. Von solchen, die jeden Sonntag in der Kirche saßen und denen keiner sagte, dass Rassenhass unchristlich ist.«
Gambrioni war auf diese Art Disput nicht vorbereitet. Nach einer unangenehmen Pause versuchte noch einmal, das Gespräch in eine gütliche Richtung zu lenken. Es hing zu viel von einer guten Zusammenarbeit mit der Wiener Polizei ab und er musste achtgeben, es sich nicht vollkommen mit Huber zu verscherzen. »Das tut mir leid, das mit Ihrem Großvater. Sie haben recht. Es ist nicht nur in dieser Zeit viel zu viel Unrecht geschehen.«
Huber nickte stumm und schien die Entschuldigung des Kardinals beinah zu akzeptieren. Gambrioni legte die Fingerspitzen aneinander und sprach nun sehr bedacht, beinahe leise. »Haben Sie den Artikel im ›Spiegel‹ zu diesem Thema gelesen?«
Huber und Raphaela drehten sich zu Gambrioni um. Huber ahnte, welchen Artikel Gambrioni meinte.
»Der ›Spiegel‹ hatte im Frühjahr eine Artikelserie, in der er im Andenken an das Kriegsende vor sechzig Jahren unter anderem die Stellung der katholischen Kirche zum Holocaust untersucht hat.« Gambrioni machte eine würdevolle Pause. »Nun, ja. Einer der Artikel beschäftigte sich mit dem Verhalten von Papst Pius XII. gegenüber Adolf Hitler. Die Autoren bezeichneten ihn darin ungerechterweise als Hitlers Papst und Sympathisant des Naziregimes.« Gambrioni schien tief in seinem Innersten davon überzeugt zu sein, dass Pius XII ein aufrechter Vertreter Christi war.
Huber betrachtete den alten Kardinal. Es schien fast, als hatte er Tränen in den Augen. Möglicherweise brachen sich aber auch die glitzernden Lichtstrahlen vom Kronleuchter auf seiner Bindehaut. »Ich wünschte, Sie wären ihm begegnet!« betonte er. »Papst Pius XII. war der aufrichtigste Mann, den ich je kennengelernt habe. Es ist bedauerlich, dass der Kirche bis zum
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