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Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Titel: Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg S. Gustmann
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mich, was in den letzten Minuten wohl geschehen sein mochte. Es war klar, dass er eine Verletzung an seinem Finger hatte, und ich schauderte, als ich daran dachte, welchen Grund diese Blessur haben könnte.
    Himmler hatte mir in einem vertraulichen Gespräch von einem okkulten Ritual erzählt, das er und seine Ordensleute demnächst anzuwenden gedachten. Es ging um die Vermischung seines Blutes mit den winzigen Spuren des Blutes Jesu, die die Lanze noch an sich trug. Das Fingerritzen initiiere die Übertragung der gewaltigen Kraft der Lanze und bewirke eine ewige Verbundenheit mit den verantwortlichen Mächten. Ich vermute deshalb, dass er sich, solange die Lanze noch in seinem Besitz war, mit der Spitze des Speers den Finger aufgeritzt hatte, um sich die Macht der Lanze zu sichern.
    Ich bat ihn, mir die Lanze einmal zu zeigen, und er reichte sie mir ohne das geringste Zögern, so, als sei sie nun nichts mehr wert. Sie war in ein dickes, edles Tuch eingewickelt. Heinrichs Augen waren währenddessen starr geradeaus gerichtet, und er schien mit seinen Gedanken fernab von dieser Welt zu sein. Langsam packte ich die Lanze aus dem Stoff aus. Und mir stockte der Atem. Nie zuvor hatte ich solch ein prächtig geschmiedetes Stück gesehen. Und tatsächlich war in der Mitte des Lanzenblattes ein Nagel eingearbeitet. Vor Kurzem hat mir Himmler eine Abbildung der echten Lanze aus Wien gezeigt, und als ich sie nun in den Händen hielt, konnte ich nicht sagen, in welchem Punkt die Kopie nicht mit dem Original übereingestimmt hätte. Genauso gut hätte man sie für das Original selbst halten können.
    Plötzlich keimte in mir ein Gedanke auf, der gleicht Gedanke, der offensichtlich Himmler kurz zuvor befallen hatte. Ohne lange darüber nachzudenken, setzte ich die Spitze der Lanze auf meine Fingerspitze und wollte soeben eine kräftige Schnittbewegung durchführen, als mich eine warnende Stimme tief im Inneren meiner Seele davon abhielt. TUE ES NICHT, hörte ich es wie einen Schrei in mir widerhallen – und wich erschrocken zurück.
    H. hatte von all dem nichts mitbekommen. Er schien immer noch wie in Trance zu sein. Verstört wickelte ich die Waffe wieder in ihr Tuch und reichte sie Himmler zurück. Mechanisch nahm er sie ohne ein Danke oder Ähnliches zurück und drückte sie fest an sich. Erst, als der Adjutant ihn mehrmals ansprach, fand er in die Wirklichkeit zurück. Er benahm sich fortan, als seien die letzten dreißig Minuten aus seinem Gedächtnis entschwunden, und auf die Frage, ob es ihm wieder gut gehe, nickte er irritiert und verzog den Mundwinkel zu einer Grimasse. Was war wohl mit ihm in diesem Zimmer im oberen Stockwerk geschehen? Welche Geister hatte er gerufen, die ihn derart erschreckten? Er spricht nämlich oft von seinen Ahnen, die er konsultiere, wie er es nennt, und es klingt, als ginge man zu einem Arzt oder einem Priester. Doch er meint es sehr ernst damit. Er hält sich ja schließlich selbst für die Reinkarnation von Heinrich dem I., dem Vogeler. Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, dass unsere Ahnen um uns sind, geschweige denn, dass ich sie zu irgendeiner Sache befragen könnte oder sollte. Wenn aber nicht die Ahnen zu ihm reden, wer ist es bitte dann?
    Ich gebe zu, dass mich dieses Erlebnis ein wenig zur Vernunft gebracht hat. Himmler hat mir ein all zu abschreckendes Beispiel geliefert.
    Wir verließen die Burg, und derselbe unhöfliche Fahrer brachte uns zurück zu dem kleinen Flughafen. Der Flieger nach Rom wartete bereits voll aufgetankt, und es dauerte keine zehn Minuten, bis wir wieder in der Luft waren. Dieser Flug war jedoch völlig anders als der Hinflug nach Paderborn.
    Während des ersten Fluges hatte Himmler unaufhörlich geredet und es war ihm gleichgültig gewesen, ob ihm nun jemand zuhörte oder nicht. Er hatte mich angehalten, meinen Block und meinen Stift bereitzuhalten, da kein Wort aus seinem Munde kam verloren gehen dürfe. Ich muss allerdings gestehen – wenn auch nur an dieser Stelle –, dass das Meiste, was Himmler von sich gegeben hatte, der größte Unfug gewesen war. Ein Schuljunge hätte bei entsprechender Kühnheit die vorgebrachten politischen Ansichten widerlegen können, doch ich hatte mich zurückgehalten und so getan, als schriebe ich den ganzen Blödsinn auf, der aus ihm hervorquoll.
    Nun aber sprach er eigentlich gar nicht mehr. Er starrte aus dem Fenster in die Ferne, und wenn er doch einmal etwas sagte, hatte man den Eindruck, als vernähmen wir nicht

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