Hueter Der Macht
gefangen, doch versuchten die meisten von ihnen trotzdem, so viele Monate wie möglich jedes Jahr in Avignon mit seinen Annehmlichkeiten der zivilisierten Welt zu verbringen.
Waren sie in Rom, dann beobachteten die Kardinäle den Papst auf das Sorgfältigste. Hatte sein Gesicht nach der Messe am Vortag nicht ein klein wenig grau gewirkt? Hatten seine Finger nicht ganz leicht gezittert, als er auf dem Bankett zu Ehren des Thronfolgers des Heiligen Römischen Reiches sein Fleisch geschnitten hatte? Und wie viel Essen nahm er überhaupt zu sich? Sie bestachen den Leibarzt des Papstes, um Einzelheiten über seine Verdauung und den besonderen Geruch seines Urins in Erfahrung zu bringen. Sie jagten dem päpstlichen Kammerherrn mit Drohungen der ewigen Verdammnis Angst ein, um herauszufinden, ob die Laken des Papstes am Morgen mit Ausfluss befleckt waren und, wenn ja, mit welcher Art.
Sie verbrachten einen Großteil ihrer Zeit damit, die Gesundheit des Papstes genau zu beobachten… und sorgfältig Pläne zu schmieden. Wenn der Papst sein unvermeidliches Ende fand, und Gott gebe, dass es bald geschah!, würden die Kardinäle einen Nachfolger aus ihren Reihen wählen.
Und wenn es so weit war, dann schworen sie bei der Heiligkeit Christi, dass sie einen Mann wählen würden, der sie nach Avignon und zu den Vorzügen der glorreichen französischen Kultur zurückbrächte.
Wenn er nicht gerade betete oder im Kräutergarten beschäftigt war, arbeitete Thomas in der Bibliothek von Sant’ Angelo, wie der heilige Michael es ihm aufgetragen hatte. Die Bibliothek war ein großes Gelass in einem Steingewölbe unter der Kapelle. Das Gewölbe war zu allen Jahreszeiten kalt, selbst während der heißen, feuchten römischen Sommer, doch seine Lage und Bauweise schützten es vor Eindringlingen und Feuer, und in der wechselhaften Geschichte Roms war dies ein nicht zu unterschätzender Vorteil.
Hier wurden die Aufzeichnungen des dominikanischen Klosters aufbewahrt, die über hundert Jahre zurückreichten, und die Schriften des Benediktinerordens, der zuvor in dem Gebäude ansässig gewesen war. Die Aufzeichnungen befanden sich auf großen Pergamentrollen, säuberlich aufgestapelt auf Gestellen, die den Großteil der Wände einnahmen.
An den übrigen Wänden und in Reihen in der Mitte des Raumes standen Schreibpulte und Regale. In ihnen befanden sich Hunderte wertvoller Bücher, die das Kloster besaß: mühsam von Hand abgeschrieben, waren die Bücher ein wahres Wunder der Kunst und des Geistes. Manche reichten fünfhundert Jahre zurück, andere waren gerade erst kopiert worden, alle jedoch waren unbezahlbar und wertvoll. Es waren schwere Bände, etwa eine Armlänge lang und eine halbe breit und dick, und keiner von ihnen verließ jemals das Regal oder brusthohe Lesepult, auf dem sie aufbewahrt wurden. Stattdessen wanderte der Leser von einem Buch zum nächsten und bewegte sich im Laufe der Monate und Jahre durch die ganze Bibliothek, von Pult zu Pult, von Brett zu Brett, trug seinen Schemel und seine Kerze – die sich in einem Gehäuse aus Messing und Glas befand, damit das Wachs nicht auf die empfindlichen Seiten tropfte – mit sich, und ebenso Pergament, Feder und Tinte, für den Fall, dass er einen besonders erhellenden Satz abschreiben wollte.
Nicht alle Brüder gingen dorthin, um zu lesen und zu studieren. Etwa drei oder vier von ihnen waren damit beschäftigt, besonders empfindliche Bücher oder solche, die von Klöstern in Rom oder von einem anderen Ort Norditaliens ausgeliehen worden waren, abzuschreiben. Sie arbeiteten unter dem einzigen großen Fenster, das die Bibliothek besaß, ihre tinten- und farbfleckigen Hände kratzten mit den Federkielen sorgfältig über das elfenbeinfarbene leere Papier und verwandelten Großbuchstaben in wahre Kunstwerke und ebenso die Illustrationen des täglichen Lebens und der Hingabe zu Gott, die sie an die Ränder der Seiten zeichneten.
Trotz der Kälte des Steingewölbes und obwohl ein Kamin vorhanden war, wurde hier nie ein Feuer angezündet, aus Furcht vor einem Brand und den Schäden, die der Rauch verursachen konnte.
Die Brüder arbeiteten in Decken gehüllt und wurden von ihrem Drang nach Bildung gewärmt.
Alle Tätigkeiten der Brüder in der Bibliothek, ob sie nun studierten oder kopierten, wurden von einem betagten Bibliothekar beaufsichtigt, der über einen scharfen Blick verfügte, mit dem er noch aus zwanzig Schritt Entfernung eine tropfende Feder oder Kerze oder einen
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