Hueter Der Macht
kehrte Thomas nach der Vesper in die Bibliothek zurück, um seine Studien fortzusetzen, bis zur Komplet geläutet wurde. Nur wenige der anderen Brüder hatten sich ihm angeschlossen – so spät am Abend war es ihnen hier zu kühl.
Doch Thomas zog nicht nur sein Lerneifer, sondern auch ein innerer Zwang, den er nicht recht benennen konnte, hierher zurück.
In der Chronik gab es irgendetwas, das wichtig für ihn war. Er wusste es. Der heilige Michael war zwar nicht erschienen, um ihm das zu sagen, doch Thomas wusste, dass der Erzengel sein Tun lenkte.
Thomas las gerade in den Aufzeichnungen der dreißiger Jahre des vierzehnten Jahrhunderts, und während er sich über die unhandlichen Pergamentrollen unter der zischenden Lampe beugte, wurde ihm plötzlich klar, was ihn in den letzten Tagen so beunruhigt hatte.
Von Zeit zu Zeit tauchte in den Aufzeichnungen eine Ungereimtheit auf.
Die Brüder von Sant’ Angelo bewegten sich in regelmäßigen Abläufen durch die Chronik: Sie kamen in das Kloster, blieben einige Monate oder manchmal sogar Jahre, um ihre Studien zu betreiben, und verließen es dann wieder. Während dieser Zeit blieb ihr Tagesablauf stets gleich: Gebete, Mahlzeiten, Studien.
Doch es gab einen Mönch, der nicht in dieses Schema passte. Sein Name tauchte wie ein quälender Zahnschmerz in den Chroniken auf; er war zwar Teil der Gemeinschaft von Sant’ Angelo, doch ein beunruhigender Teil. Monatelang war er aufgeführt wie die anderen Mönche auch, und sein Tagesablauf unterschied sich in nichts von dem der anderen – obwohl Thomas auffiel, dass er nicht an den wöchentlichen Disputationen teilnahm.
Dann verschwand er zweimal im Jahr für etwa acht Wochen aus den Aufzeichnungen, bis sein Name mit dem gewohnten Tagesablauf wieder auftauchte.
Für seine Abwesenheiten gab es keine Erklärung, und in ihrer Regelmäßigkeit schienen sie nicht normal. Mönche kamen nach Sant’ Angelo, blieben eine Weile und gingen dann wieder. Sie kamen und gingen jedoch nicht auf diese Weise. Wenn sie an einen anderen Ort gerufen wurden, reisten sie dorthin und blieben dort. Sie benutzten Sant’ Angelo nicht jahrelang als eine Art Gasthaus, in dem sie einige Zeit verbrachten, bis sie zu ihrer wahren Beschäftigung zurückkehren konnten.
Für das erste Jahr, in dem Thomas auf das unerwartete Kommen und Gehen des Mönchs gestoßen war, hatte er einfach angenommen, der Mönch hätte etwas Dringendes in einem anderen Kloster zu erledigen gehabt – etwas, dem er sich nicht entziehen konnte. Doch dann war das gleiche Muster im nächsten Jahr wiederaufgetaucht, und auch im darauf folgenden und in den Jahren, die danach kamen. Aufbruch und Rückkehr des Mönches fanden stets zur selben Zeit statt: Er verließ den Konvent jedes Jahr Ende Mai und kehrte Ende Juli zurück, brach dann noch einmal Anfang Dezember auf und kehrte Ende Januar zurück.
Was steckte dahinter?
Abgesehen davon gab es keine Unregelmäßigkeiten. Wenn ein Mönch aus irgendeinem Grund das Kloster verlassen musste, musste er sich vom Prior die Erlaubnis geben lassen, und diese wurde zusammen mit dem Grund für seine Abwesenheit in die Bücher eingetragen. In all diesen Jahren hatten nur drei Brüder den Konvent kurzzeitig verlassen, und ihre Gründe waren ebenso wie die Erlaubnis des Priors in den Büchern verzeichnet.
Doch nicht bei diesem Mönch.
Verwirrt schlug Thomas in den Aufzeichnungen der zwanziger Jahre nach, um herauszufinden, wann der Mönch ursprünglich im Kloster eingetroffen war… und zu seiner Verwunderung und wachsenden Beunruhigung stellte Thomas fest, dass er während der gesamten zwanziger Jahre Sant’ Angelo immer wieder aufgesucht und verlassen hatte.
Und das offenbar ohne besondere Erlaubnis und stets zweimal im Jahr zur selben Zeit.
Ende 1327 war der amtierende Prior gestorben, und als der merkwürdige Mönch fünf Monate später, nachdem ein neuer Prior gewählt worden war, wieder ohne jede Erklärung das Kloster verließ, gab es diesmal immerhin eine Eintragung darüber, dass der neue Prior den Mönch zu einem Gespräch bat, zweifellos, um ihn zur Rede zu stellen.
Und an Lammas 1328 war verzeichnet, dass die Unterredung nach der Rückkehr des Bruders stattgefunden hatte. Der einzige Kommentar zum Ergebnis der Unterredung jedoch war die nach Thomas’ Ansicht unerhörte Entscheidung, dass der Mönch kommen und gehen durfte, wann er wollte.
Kein Mönch kam und ging, wann er wollte! Seine eigenen Interessen hatten sich stets
Weitere Kostenlose Bücher