Hueter Der Macht
fromm und überaus weise war. Er war ein großer Papst, und ich vertraute seinen Worten blind.«
Thomas verstand, was er damit sagen wollte, auch wenn er diesmal nicht nickte. Bonifatius war bereits dreißig Jahre tot, als Wynkyn Bertrand den Brief des Papstes gezeigt hatte, doch seine Worte besaßen immer noch die gleiche Macht wie zu der Zeit, als sie niedergeschrieben worden waren. Nach Bonifatius’ Tod hatte der französische König Philipp, den viele des Mordes an Bonifatius beschuldigten – der König hatte erfolglos versucht, den Papst zu entführen, woraufhin dieser einem tödlichen Herzanfall erlag –, mithilfe seiner Marionette, Papst Clemens, seinen Einfluss auf den Heiligen Stuhl ausgedehnt, und die Päpste waren nach Avignon gezogen, um dort in moralischem Verfall und in Sünde zu leben.
Bonifatius war für die meisten Christen der letzte wahre Papst gewesen. Wenn Wynkyn einen Brief von einem der Päpste von Avignon vorgezeigt hätte, hätte Bertrand ihn wahrscheinlich ins Feuer geworfen und den Bruder ausgelacht.
»Und das war alles, was in dem Brief stand?«, fragte Thomas leise.
»Ja. Das war alles. Aber zusammen mit dem Licht, das in Bruder Wynkyns Augen leuchtete und das ich nun auch in Euren sehe, reichte es aus.«
Bertrand erhob sich schwerfällig und ging in dem engen Raum zwischen Bett und Tür auf und ab. »Danach ließ ich Wynkyn de Worde gewähren. Er war stets ruhig und tat nichts, was den Frieden des Klosters gestört hätte. Die anderen Brüder kümmerten sich nicht um das, was er tat.«
»Wohin ging er, wenn er das Kloster verließ?«
»Er ging zweimal im Jahr zur Sommer- und Wintersonnenwende zum Konvent in Nürnberg.«
Endlich! Der Zeitpunkt von de Wordes wiederholter Abreise und Ankunft wurde nun verständlich. Die Sommersonnenwende fand zur Vigil des heiligen Johannes des Täufers Ende Juni statt, die Wintersonnenwende in der Nacht vor der Vigil zur Geburt des Herrn Jesus Christus.
»Was er dort gemacht hat«, fuhr Bertrand fort, »weiß ich nicht, obwohl es etwas mit dem Bösen zu tun hatte, um das Bruder Wynkyn sich kümmern sollte.«
»Und was hatte es mit den Sonnenwenden auf sich?«
Bertrand zuckte nur mit den Achseln.
Thomas dachte nach, während Bertrand sich wieder auf dem Schemel niederließ.
»Was ist mit diesem alten Buch, in dem Bruder Wynkyn las? Was stand darin?«
»Ich weiß es nicht.«
»Befindet es sich immer noch im Kloster?«
»Nein. Wynkyn hat es auf seine letzte Reise in den Norden mitgenommen.«
»Zu Beginn des ersten Jahres der Pest.«
»Ja.« Bertrand kauerte missmutig auf dem Schemel. Warum hatte er die Aufzeichnungen nicht schon früher vernichtet?
»Und Wynkyn ist nicht aus Nürnberg zurückgekehrt?«
»Nein. Ich nehme an, er ist an der Pest gestorben.«
»Und das Buch?«
»Wynkyn hat es in einer Eichenschatulle mitgenommen. Ich denke, es wird wohl dort liegen, wo er seinen letzten Atemzug getan hat. Entweder das, oder es ist gestohlen worden.« Es gab gute und böse Bücher, so glaubte Bertrand, und er hatte sich jahrelang gefragt, ob das Buch, das Wynkyn de Worde bei sich trug, zu letzteren gehörte. Bertrand wusste nicht, was mit dem Buch geschehen war, aber er hoffte, dass es für immer verschwunden war.
Thomas grübelte noch immer vor sich hin. Seit der letzten Stunde hatte er endlich ein Ziel vor Augen, wo zuvor nur vage Hoffnung und Sehnsucht gewesen war. Jetzt wusste er mit einem Mal genau, was er zu tun hatte.
Alle Gedanken an Huren und entblößte Leiber hatten sich verflüchtigt.
»Ich muss auf Wynkyn de Wordes Spuren seine letzte Reise nach Norden nachverfolgen«, sagte Thomas, und Bertrand blinzelte, als sei er ein Gefangener, der plötzlich und unerwartet freigelassen wurde.
Er konnte sich dieses lästigen Bruders ein für allemal entledigen!
»Ich muss diese Schatulle finden«, sagte Thomas, »aber ich werde Eure Hilfe brauchen.«
»Was immer Ihr benötigt«, sagte Bertrand und wünschte sich im Stillen, Thomas würde einfach verschwinden.
»Ich ersuche um eine Audienz beim Papst.«
Bertrand glaubte, sich verhört zu haben.
Thomas blickte ihm fest in die Augen. »Bonifatius wusste offenbar über Bruder Wynkyns Aufgabe Bescheid. Was, wenn er sein Geheimnis an seine Nachfolger weitergegeben hat? Ich muss den Heiligen Vater fragen und ihn vielleicht sogar um Unterstützung bitten.«
Thomas würde auch ohne die Hilfe des Papstes auskommen, doch sie würde ihm viele Türen öffnen.
Ihm war klar, dass Bertrand
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