Hüter der Macht
Tuchmanufaktur der Medici, die unter der Leitung des Oberfaktors Vieri di Armando stand und sich unweit des Franziskanerklosters Santa Croce nahe des rechtsseitigen Arnoufers befinden sollte.
Und dort würde Sandros neues Leben beginnen. Das Leben als Lehrling in einer Tuchmanufaktur, die im Besitz einer der mächtigen Familien der Welt war!
Sandro hatte am gestrigen Tag mehrere Stunden warten müssen, bis Cosimo de’ Medici ihn abermals zu sich gerufen und ihm erklärt hatte, welche Aufgabe er ihm zugedacht hatte. Sandro hatte sein Glück nicht fassen können, als er schließlich sein Anstellungsschreiben in der Hand gehalten hatte. Er war recht spät von Cafaggiolo aufgebrochen, doch dass er es bis vor Einbruch der Dunkelheit nicht nach Florenz schaffen würde, hatte ihn nicht im Mindesten bekümmert. Die Nacht hatte er kurz vor der Stadt in einem Olivenhain verbracht und war während des vielstimmigen Chores der Kirchenglocken, die den neuen Tag einläuteten, durch die Porta al Prato nach Florenz gekommen.
Sandro eilte weiter. Aus den dunklen Werkstätten von Waffen- und Hufschmieden, die er nun passierte, stieg der Rauch der Feuer, die in ihren Essen loderten. Und das rhythmische Hämmern auf dem Amboss, das vermutlich den ganzen Tag zu hören war, drang auf die Straße. Ihm begegneten Männer, die schwere Bottiche trugen, und Frauen, in deren Körben dicke Rollen Garn lagen. Der stechende Geruch einer flussnahen Färberei stieg ihm in die Nase und vor einem Laden stand ein Fleischer mit blutbesudelter Lederschürze und sprach mit einer älteren Frau, offenbar Köchin in einer wohlhabenden Familie.
Keine fünf Minuten später gelangte Sandro auf einen kleinen Platz.
Zwischen den Häusern zu seiner Rechten sah er den Arno, dessen Ufer nur einen Steinwurf weit entfernt war. Die dunkelbraunen Fluten wälzten sich durch sein Bett nach Westen. Fischer trieben in kleinen, rundlichen Booten mit der trägen Strömung dahin.
Und nach einigen weiteren Schritten stand Sandro endlich vor dem lang gestreckten Ziegelbau, den man ihm beschrieben hatte.
Endlich hatte er es geschafft! Vor ihm erhob sich die schmucklose Medici-Tuchmanufaktur.
In das Unter- und Obergeschoss der Bottega waren zwei große Bogenfenster eingelassen, durch die viel Licht ins Innere dringen konnte. An der vorderen Schmalseite des Gebäudes bemerkte Sandro einen Flaschenzug, dessen dicke Seile zu einer rechteckigen und mannshohen Öffnung mit einer etwas vorspringenden Plattenform aus kräftigem Balkenwerk unterhalb des Giebelwinkels hinaufführten. An das hintere Ende der Bottega schloss sich ein schmalbrüstiges Wohnhaus an, das mit dem Betrieb durch einen kurzen, überdachten Durchgang verbunden war. Auf der anderen Seite des Vorplatzes waren Arbeiter damit beschäftigt, mehrere alte Häuser einzureißen, vielleicht um dort Raum für ein neues großes Gebäude zu schaffen, womöglich für den Palast eines reichen Kaufmanns.
Sandro trat durch das offen stehende Tor und fand sich in einem geräumigen Vorraum wieder. Sein Blick fiel durch einen hohen Durchgang in den dahinterliegenden Raum und dort auf ein gutes Dutzend Männer und Frauen, die auf blank gescheuerten Dielen saßen und Wollvliese kämmten. Er erinnerte sich zwar nicht mehr an alle Einzelheiten, die sein Vater ihm beigebracht hatte, verstand aber so viel von der Wollverarbeitung und der Tuchherstellung, dass er wusste, wen er vor sich hatte. Die Männer und Frauen waren cardatori, Krempler und Wollkämmer, die in dem langen Prozess von der Rohwolle hin zum fertigen Tuch die ersten Arbeitsgänge erledigten.
An der Wand neben dem Durchgang hing unter zwei sich kreuzenden Hellebarden ein hölzerner Schmuckschild, der das Wappen der Medici zeigte: sechs rote Kugeln auf goldenem Grund. Rechts davon führte eine breite Stiege ins Obergeschoss.
Bevor Sandro dazu kam, sich näher umzusehen, trat aus einer Tür zu seiner Rechten ein großer untersetzter Mann mit einem kantigen Gesicht und buschigen Brauen über tief liegenden Augen.
»Was willst du hier?«, fragte der Mann knapp und musterte ihn, als wollte er abschätzen, ob er im Auftrag eines Kunden kam oder nur als lästiger Bittsteller, der um Arbeit ersuchte.
»Ich möchte den Oberfaktor Vieri di Armando sprechen«, erwiderte Sandro höflich und deutete eine Verbeugung an.
»Der steht vor dir.« Der Mann schien es offenbar lästig zu finden, mehr Worte an ihn zu verschwenden.
»Ich heiße Sandro Fontana und Cosimo de’ Medici
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