Hüter der Macht
die Pest gab es kein Heilmittel, das wusste jeder. Der einzige Schutz bestand darin, möglichst schnell aufs Land zu flüchten. Doch wenn man nicht zu den Begüterten gehörte, denen das möglich war, konnte man sich nur in seinem Haus einschließen, jeglichen Kontakt zu anderen Menschen meiden und warten. Aber wenn es schon jemanden im Haus gab, der sich angesteckt hatte, dann gab es kaum noch Hoffnung, die Pest zu überleben. »Wir müssen so schnell wie möglich zurück und uns mit den anderen in Vieris Haus verbarrikadieren!«, rief Sandro.
»Gebe Gott, dass die Pest nicht schon bis nach Santa Croce vorgedrungen ist!«
Sie stürzten los. Die Todesangst ließ sie ihre Müdigkeit, ihren Durst und die drückende Hitze vergessen. Sie rannten so schnell wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Als sie durch das Viertel östlich des Gefängnisses stürmten, fiel Sandros Blick auf den Laden eines Bäckers auf der anderen Straßenseite.
»Warte!«, rief er Tommaso zu. »Lass uns schnell ein paar Laibe Brot kaufen! Wer weiß, wie lange wir im Haus ausharren müssen.«
Nur widerwillig blieb Tommaso stehen und folgte Sandro hinüber zum Laden.
Sie kamen jedoch zu spät. In der Bäckerei herrschte schon ein wüstes Geschrei und Gedränge. Die Menschen prügelten sich um die Brote, die der Bäcker in großen Weidenkörben und auf Holzplatten für seine Kunden bereithielt. Der Bäcker versuchte, die kostbaren Laibe für sich und seine Familie zu retten, aber er stand auf verlorenem Posten. Aus Angst, einer aus der Menge könnte schon von der Pest befallen sein und ihn anstecken, gab er das Gezerre schließlich auf, floh durch die Hintertür in sein Haus und überließ es den rasenden Menschen, sich um die restlichen Laibe zu schlagen.
Sandro konnte zwei Brote an sich reißen und auch Tommaso bekam eines zu fassen. Das musste reichen.
»Nichts wie raus hier!«, brüllte Sandro und stürzte aus dem Laden, die Brote fest unter die Arme geklemmt.
Sie waren in Schweiß gebadet, als sie endlich über den Vorplatz auf das Wohnhaus von Vieri di Armando zuliefen. Mittlerweile läuteten überall in der Stadt die Glocken, als stünde die gewaltige Streitmacht eines Feindes vor den Mauern von Florenz. Ein kurzer Blick hinüber zu dem weit offen stehenden Tor der Bottega verriet ihnen, dass die Arbeiter schon von dem Eindringen der Pest in die Stadt erfahren und die Flucht ergriffen hatten.
Die Tür zum Wohnhaus war verschlossen. Sandro hämmerte mit der Faust dagegen und schrie: »Lasst uns rein, Meister Vieri! Wir sind es, Eure Lehrlinge Sandro und Tommaso! Wir haben noch Brot besorgt!«
»Verschwindet! Auf der Stelle!«, antwortete ihm Augenblicke später die grobe Stimme des Oberfaktors. »Weiß der Teufel, ob ihr euch nicht schon die Pest eingefangen habt!«
»Das könnt Ihr doch nicht machen, Meister Vieri!«, rief Tommaso beschwörend. »Lasst uns ins Haus! Wir haben uns ganz bestimmt noch nicht angesteckt! Ihr könnt uns doch nicht auf der Straße stehen lassen!«
»Und ob ich das kann! Was geht mich euer lausiges Leben an! Seht zu, wo ihr bleibt! Hier kommt ihr jedenfalls nicht rein!«
Tommaso flehte und hämmerte weiter gegen die Tür, doch ihr Meister blieb hart.
»Hör auf damit!«, rief Sandro ihm schließlich zu, packte ihn an der Schulter und zog ihn von der Tür weg. »Dieser Schweinehund wird sich auch dann nicht erweichen lassen, wenn du dir die Fäuste wund hämmerst und dir die Lunge aus dem Leib brüllst.«
Todesangst flackerte in Tommasos Augen. »Und was soll jetzt aus uns werden?«, stieß er mit zitternder Stimme hervor.
»Ganz einfach, wir schließen uns drüben in der Bottega ein. Da sind wir vielleicht sogar besser aufgehoben als bei Vieri und den anderen im Haus. Wir haben Brot und um Wasser brauchen wir uns vorerst auch nicht zu sorgen«, sagte Sandro beruhigend. »Unten in der Werkstatt der Wollkämmer stehen zwei große, gut gefüllte Wassertonnen. So können wir notfalls lange aushalten.«
Ein schwaches Lächeln huschte über Tommasos Gesicht. »Daran habe ich gar nicht gedacht! Also nichts wie rüber in die Bottega, bevor uns irgendjemand zuvorkommt und wie Vieri die Tür vor der Nase zuschlägt!«
Wenige Augenblicke später hatten sie das Eingangstor der Tuchmanufaktur hinter sich zugezogen und den schweren Balken von innen vorgelegt. Dann schlossen sie die hölzernen Schlagläden vor den beiden großen Fenstern im Erdgeschoss und verriegelten sie.
»So, hier sind wir erst einmal sicher«,
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