Hüter der Macht
doch fühlte er eine seltsame Leere und Wehmut, die er sich nicht erklären konnte. Mit einem Mal kam es ihm so vor, als ob seine Glückssträhne zum Zerreißen gespannt war.
So schritt er langsam durch die Straßen und Gassen, und vielleicht lag es an der Prügel, die er bezogen hatte, oder aber am vielen Alkohol, der noch in seinem Körper tobte, vielleicht auch an den Fragen, die Jacopo gestellt hatte; immer wieder kam Sandro das eine Bild in den Kopf, das nicht weichen wollte.
Tessa mit ihren dunklen Augen unter den geschwungenen Brauen. Tessa mit ihrer schlanken Gestalt, die so viel Stolz verriet, dass Sandro jedes Mal Mühe hatte, sie mit ihrer Stellung als Sklavin in Einklang zu bringen.
Mit einem Mal fiel ihm ein, was die alte Zofe Gemma ihm mit auf den Weg gegeben hatte. In der Via San Gallo sollte sich der Palazzo von Fiamettas Ehemann befinden, der Palazzo der Vasetti.
Sandro blieb stehen. Ihm war ein aberwitziger Gedanke gekommen. Was, wenn er sich einfach auf den Weg in die Via San Gallo machen würde? Er wusste, dass er kaum Gelegenheit haben würde, Tessa dort zu Gesicht zu bekommen – aber der Gedanke, ihr wenigstens nahe sein zu können, machte ihm Mut. Ja, er wollte wenigstens einmal sehen, in welchen Palazzo es sie verschlagen hatten. Und vielleicht fand er mit ein wenig Glück einen Dienstboten der Vasetti, der ihm Auskunft darüber geben konnte, welche Kirche die Familie besuchte.
Eilig lief er los, doch diesmal hütete er sich vor dunklen Gassen und Hinterhöfen. Davon hatte er heute wahrlich genug – seine Glieder schmerzten nämlich noch immer fürchterlich von dem Angriff.
Endlich erreichte er die Via San Gallo und schaute sich suchend um. Hier musste irgendwo der Palazzo stehen, in dem Tessa jetzt wohnte. Doch wo genau, davon hatte die alte Zofe Gemma nichts gesagt. Er blickte sich nach allen Seiten um, doch in dieser Straße standen nicht wenige prächtige Palazzi zwischen schmalen Bürgerhäusern und trutzigen Wohntürmen.
Gerade wollte er eine ältere Frau fragen, die an ihm vorbeieilte, wo sich der Palazzo der Familie Vasetti befand, da hörte er eine Stimme hinter sich, die er unter Tausenden wiedererkannt hätte.
»Sandro? Bist du es wirklich?«
Sandro fuhr herum. »Tessa!«
Sprachlos standen sie voreinander, doch dann trat Entsetzen und Sorge in Tessas dunkle Augen. »Aber wie siehst du aus? Was ist mit dir geschehen?«
Sandro fasste sich verlegen an den Kopf. »Ach das … Das ist nicht weiter schlimm.« Er winkte ab. »Nur eine kleine Rempelei …« Seine Kopfschmerzen waren auf einmal wie weggeblasen. »Viel wichtiger ist, dass wir uns endlich wiedergefunden haben.« Er strahlte sie an.
»Was treibt dich ausgerechnet in die Via San Gallo?«, fragte Tessa aufgeregt. »Hast du in der Kirche Santa Maria Novella nach mir Ausschau gehalten? Ach, es ist so viel geschehen und ich konnte nicht …« Verzweifelt brach sie ab, offensichtlich aus Verlegenheit, weil sie nicht wusste, wo sie anfangen sollte.
Sandro zwinkerte ihr zu. »Vielleicht hat mich das Schicksal ja hergeführt …«, sagte er, und das stimmte ja in gewisser Weise auch. Er konnte noch immer nicht fassen, dass er sie hier auf der Straße getroffen hatte!
Liebevoll lächelte er sie an. Er hatte sie vermisst, wie sehr, das spürte er jetzt in jeder Faser seines Körpers.
»Aber das Schicksal hatte ein bisschen Hilfe von einem guten Engel namens Gemma«, erläuterte er.
Tessa staunte. »Gemma?«, fragte sie.
»Ich habe tatsächlich auf dem Platz vor Santa Maria Novella nach dir Ausschau gehalten«, beeilte sich Sandro zu erzählen. »Fast wäre ich verzweifelt, aber dann habe ich die alte Zofe getroffen, in deren Begleitung du immer warst. Sie hat mir erzählt, wohin es dich verschlagen hat und was in der Zwischenzeit geschehen ist. Sag, hast du es gut angetroffen in deinem neuen Heim?«
Tessa zuckte mit den Achseln. »Ich will nicht klagen. Die Dienerschaft hat mich gut aufgenommen und in der Köchin habe ich sogar so etwas wie eine Freundin gefunden. Fiametta hat mir in den letzten Wochen zwar keine ruhige Minute gegönnt, aber das bin ich ja gewohnt. Seit sie ein Kind erwartet, hat sie jeden Tag tausend Wünsche. Darum bin ich heute schon so früh unterwegs. Aber jetzt erzähl du, Sandro! Ich habe gehört, dass du nicht länger in der Bottega arbeitest, sondern zum Banklehrling aufgestiegen bist. Darauf kannst du wirklich stolz sein!«
»Woher weißt du das?«, fragte er erstaunt.
Eine leichte Röte
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