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Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)

Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)

Titel: Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Richner
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wusste er ungefähr, wo es lag. Bald entdeckte er ein Schild mit dem Schriftzug Eulenstraße.
    Eine Weile blieb Crispin stehen.
    Vor ihm lag eine düstere, enge Gasse. Die Häuser wirkten heruntergekommen, und ein Wirtshaus reihte sich ans nächste. Zu dieser Stunde waren viele von ihnen noch geschlossen. Langsam ging Crispin die Straße hinunter und versuchte, durch die Fenster zu spähen. Ambra hatte ihm genau erklärt, wie das Wirtshaus aussah… doch natürlich waren seither viele Jahre vergangen. Vielleicht existierte es gar nicht mehr?
    Auf einmal blieb Crispin stehen und holte tief Luft. Er presste seine Nase gegen ein Fenster, und er war sich sicher… er wusste, dass er das Wirtshaus gefunden hatte. Alles war genau so, wie Ambra es immer erzählt hatte: Die Theke mit dem großen geschnitzten Anker, das Gemälde eines Seeungeheuers an der Wand und die Fischernetze, die von der Decke baumelten.
    Crispin stand reglos da und starrte durch die Fensterscheibe. Hier war es also gewesen. Hier hatten seine Eltern ihn in einem Weidekorb zurückgelassen, und hier hatten die Gaukler ihn aufgenommen. Zwölf Jahre war das her. Angestrengt versuchte sich Crispin zu erinnern, doch er war damals noch zu klein gewesen. Er kannte dieses Wirtshaus nur aus Ambras Erzählungen.
    „Junge, was hast du hier zu suchen?“, knurrte jemand in diesem Moment. Crispin machte einen erschrockenen Schritt zurück und blickte in das Gesicht eines mürrisch aussehenden Mannes, der aus der Tür des Wirtshauses getreten war.
    „Ähm… nichts“, murmelte er.
    „Dann tu woanders nichts“, sagte der Mann. Crispin öffnete den Mund, aber dann drehte er sich wortlos um und ging. Wozu hätte er es dem Mann erklären sollen?
    Für den Rest des Tages war er sehr schweigsam. Während der Aufführung seiner Familie am Abend ging er so abwesend mit dem Hut durch die Reihen, dass Ignazio ihm zuzischte:
    „Gib dir mehr Mühe, sonst spenden die Leute überhaupt nichts!“
    Doch Crispins Gedanken waren weit weg.
    Am nächsten Morgen erwachte er früh. Ihm war, als hätte er Stimmen gehört. Als er aus dem Wagen kroch, sah er einen älteren Mann, der bei Ambra und Ignazio stand. Er trug einen schwarzen Anzug und einen hohen Zylinder. Offensichtlich war er mit dem kutschenartigen Gefährt gekommen, das neben dem Brunnen stand.
    „Ich weiß nicht, ob er der Crispin ist, den ihr sucht“, sagte Ambra gerade. „Wir kennen nur seinen Vornamen.“
    Crispin räusperte sich, und die Erwachsenen drehten sich zu ihm um. Auf Ambras Gesicht lag ein tiefer Schmerz.
    „Aber ich kenne meinen vollständigen Namen“, sagte Crispin. „Ich heiße Crispin Caligo.“
    Der Fremde musterte ihn und fragte:
    „Woher weißt du das?“
    „Jemand hat es mir gesagt“, antwortete Crispin. Der Fremde nickte nachdenklich. Dann wendete er sich wieder Ambra und Ignazio zu.
    „Wenn Sie gestatten, nehme ich ihn heute auf eine kleine Reise mit. Dann werden wir sehen, ob er es tatsächlich ist. Wenn nicht, bringe ich ihn wieder zurück“, schlug er vor.
    „Es ist Crispins Entscheidung“, sagte Ambra und schaute den Jungen an.
    Crispin nickte, ohne zu zögern.
    „Ich komme mit Ihnen“, murmelte er. Er konnte Ambra dabei nicht in die Augen sehen.
    Als er seine wenigen Habseligkeiten zusammensuchte, wusste er, dass er niemals zurückkehren würde. Selbst wenn ihm der Zutritt zur Stadt der Hüter doch nicht gewährt wurde – er würde nicht länger das Findelkind der Gaukler sein. Eher würde er auf eigene Faust nach seinen Eltern suchen.
    Die Verabschiedung war kurz. Ambra umarmte ihn und versuchte vergeblich, ihre Tränen zurückzuhalten.
    „Mein lieber Junge, vergiss mich nicht ganz“, schluchzte sie. Crispin schluckte und nickte. Mit einer Hand tastete er nach dem steinernen Anhänger an seinem Lederband. Ignazio nickte ihm freundlich zu, und Demetrio lächelte ihn schief an.
    „Alles Gute, vielleicht sehen wir uns mal wieder. Wird ein bisschen langweilig werden ohne dich“, sagte er. Als einziger lief er noch ein Stück weit der Kutsche nach, die Crispin seinem neuen Leben entgegentrug. Crispin beugte sich aus dem Fenster und winkte lächelnd. Doch in dem Moment, in dem auch Demetrio aus seinem Sichtbereich kam, fühlte er sich so allein auf der Welt wie nie zuvor.
    Rumpelnd und holpernd fuhr die Kutsche durch die Straßen der Stadt. Die Leute drehten sich neugierig nach ihr um, und irgendwann zog Crispin die Vorhänge vor den Fenstern zu, um nicht länger angestarrt zu

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