Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)
hatten auch Emma und Miki Spaß am Stockkampf bekommen, auch wenn sie keine Wächter waren.
„Wie geht es Finn?“, fragte Aziz, als nur noch Emily bei ihnen stand.
„Besser, glaube ich“, sagte Emily. „Er spricht nicht darüber, was passiert ist. Aber Miki meint, er scheine wenigstens keine Alpträume zu haben. Das würde er mitkriegen.“
„Er wird schon darüber hinwegkommen, Finn ist zäh“, meinte Ilja, und Aziz nickte.
„Hat sich Finns Vater eigentlich mal bei dir entschuldigt?“, fragte Emily. „Nicht direkt“, antwortete Ilja. „Er ist aber vorbeigekommen und hat gemeint, wir hätten in jener Nacht richtig gehandelt. Für seine Verhältnisse ist das so gut wie eine Entschuldigung. Und er hat nichts mehr darüber gesagt, dass Finn bei den Wächtern wieder aufhören soll.“
„Er will dich also auch nicht mehr als Hauptmann der Wächter absetzen“, stellte Emily beruhigt fest.
Eine Weile schaute sie den Übenden zu. Finn war mittlerweile besser als sie selbst. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass er das Training wochenlang verpasst hatte. Auch Emma und Miki machten Fortschritte. Allerdings nahmen sie die Sache nicht so ernst.
Irgendwann zog sich Emily unbemerkt zurück und ging zu den Ställen. Juno war dort. Sie striegelte gerade eines der Pferde, eine wunderschöne weiße Stute mit schwarzer Blesse. Als sie Emily sah, lächelte sie.
„Wie geht es dir?“, fragte sie. Emily streichelte die Stute am Hals und überlegte.
„Gut, glaube ich. Aber ich würde gerne mit Sternenfänger ins Moor reiten. Hast du was dagegen?“
Juno schüttelte den Kopf.
„Geh ruhig. Das Moor ist wieder sicher, und Sternenfänger kennt sich gut aus.“
Es dauerte nicht lange, bis Emily das Pferd bereit gemacht hatte. Sie stieg auf und lenkte es aus dem Stall direkt ins Moor. Dort ließ sie die Zügel hängen. Sternenfänger sollte selbst bestimmen, wo sie durchritten.
Er entschied sich, direkt zur Goldenen Stadt zu traben. Im Moor war es sehr friedlich. Libellen schwirrten durch die Luft, irgendwo quakte ein Frosch, und die Pflanzen standen in voller Blüte. Emily atmete tief ein. Das ganze Abenteuer um den Geist schien ihr jetzt unwirklich, denn das Moor strahlte eine tiefe Ruhe aus. Trotzdem erinnerte alles sie an die vergangenen Monate: Die Schienen der Bahn, auf denen sie vor den Irrlichtern geflüchtet war, die Ruinen der Goldenen Stadt, deren Glasfenster das Sonnenlicht in bunte Flecken verwandelten, der Eingang in die Katakomben.
Dann aber machte Sternenfänger einen Bogen und trabte in Richtung Arcanastra zurück. Als sie beim schmalen Wiesenstreifen angelangt waren, der rund um die Stadt führte, wieherte er erwartungsvoll. Emily verstand ihn. Sie richtete sich auf und wickelte die Zügel fest um ihre Hände.
„Na, dann… lauf los!“, rief sie.
Und Sternenfänger lief.
Der neue Hüter
Während der heißesten Stunden des Tages kamen sie in der Ringstadt an.
Sie waren wochenlang nach Norden gereist, hatten nur in wenigen Städten Halt gemacht und mit Aufführungen das nötigste Geld verdient. Ambra und Ignazio hatten den Jungen nichts erklärt. Trotzdem wusste Crispin, weshalb sie es so eilig hatten, die Stadt zu erreichen: Sie wollten seine Eltern finden und ihn damit loswerden. Das Gespräch zwischen ihnen, das er belauscht hatte, nagte wie Gift an ihm. Doch eigentlich konnte es ihm ja egal sein. Er hatte sich entschieden, sie zu verlassen und nach Arcanastra zu gehen – bei einem weiteren Besuch hatte der Mann mit den grünen Augen ihm mitgeteilt, dass die Stadt der Hüter dieser Ort war, an den Crispin gehörte, ohne den Grund dafür zu nennen. Seither konnte Crispin an nichts anderes mehr denken. Er würde zu den Hütern gehören, endlich jemand Besonderes sein… niemals hätte er sich vorzustellen gewagt, dass sich sein Leben so plötzlich zum Guten wenden könnte.
Sie ließen ihren Wagen auf dem Platz vor einem Varieté stehen. Die Sonne brannte jetzt mit aller Kraft vom Himmel, und zwischen den steinernen Gebäuden staute sich die Hitze. Für eine Aufführung war es selbst im Varieté viel zu heiß, deshalb waren Crispin und Demetrio für einige Stunden frei. Normalerweise zogen die beiden Jungen gemeinsam los und erkundeten die Städte. Heute aber wollte Crispin allein sein.
Die Ringstadt lag zu dieser Stunde fast ausgestorben da. Die Menschen suchten in ihren Häusern Schutz vor der Mittagshitze, und Crispin konnte in Ruhe nach dem Wirtshaus suchen. Aus Ambras Erzählungen
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