Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)
verschwunden. Emily verzog das Gesicht. Sie war froh, dass Finn mit ihr auf dem kleinen Bahnhof gewartet hatte. Nach dem Schrecken im Moor hatte sie noch immer Knie, die sehr an Wackelpudding erinnerten. Auch an den Mann mit dem roten Umhang dachte sie mit Schaudern, obwohl er dem Mädchen geholfen hatte. Er hatte einfach zu unheimlich ausgesehen. Gleich nach ihrer Ankunft in Arcanastra war das Mädchen von zwei älteren Frauen abgeholt worden. Finn hatte so leise mit ihnen gesprochen, dass Emily nichts hatte verstehen können.
Hier in Arcanastra fühlte sie sich sicherer, denn rund um die Stadt lief eine hohe, dicke Mauer. Von der umliegenden Landschaft konnte Emily deshalb nichts sehen, dafür war die riesige Stadt selbst umso interessanter. Dieser Teil Arcanastras wirkte so, als ob man versucht hätte, drei Städte auf dem Platz von einer einzigen zu errichten. Die steinernen Häuser standen so dicht, dass die Gassen dazwischen meist keinen Meter breit waren. An die Mauern hatte man zusätzliche Erker, Türmchen und Räume gebaut. Manchmal waren sogar zwei Häuser übereinander geschichtet worden. Das eine stand dann auf dem flachen Dach des anderen. Es gab auch Brücken, die hoch über Emilys Kopf von Fenster zu Fenster oder von Tür zu Tür führten. Die gesamte Stadt war auf einem Hügel erbaut worden. Deshalb verliefen die meisten Straßen, die Emily sah, leicht aufwärts.
Emily erhob sich von ihrem Koffer, auf dem sie gesessen hatte, und sah ihrer Großtante entgegen. Sie wünschte, Finn wäre noch nicht gegangen, sondern mit ihr zu Sophia mitgekommen. Immerhin wusste sie so gut wie gar nichts über ihre Verwandte.
Sophia stürmte schwer atmend auf sie zu. Ihre zerzausten Haare waren um neongelbe Lockenwickler geschlungen, die Zipfel des Morgenmantels flatterten hinter ihr her, und ihre Füße steckten in grün-orange karierten Pantoffeln.
„Meine Güte“, kicherte Emily. Im nächsten Augenblick erstickte sie fast in einer überschwänglichen, schraubstockartigen, nach Mottenkugeln riechenden Umarmung.
„Entschuldige die Verspätung, Liebes… unerwartete Ereignisse!“, erklärte Sophia.
„Schon in Ordnung“, presste Emily hervor. Ihre Lungen fühlten sich gerade ziemlich zerquetscht an.
„Deine Reise durchs Moor war etwas aufregend, habe ich gehört.“ Sophia seufzte. „Aus diesem Grund muss ich gleich noch in die Bibliothek. Du wirst wohl mitkommen müssen… ich glaube nicht, dass du schon allein durch die Stadt laufen solltest. Es wird nicht allzu lange dauern. Wir gehen erst ein Stück zu Fuß, aber dann nehmen wir die Straßenbahn.“
Emily war froh, nicht allein durch das nächtliche Arcanastra geschickt zu werden. Deshalb nickte sie, hob ihren Koffer und den Rucksack hoch und folgte Sophia bereitwillig. Glücklicherweise verhielt Amy sich noch immer mäuschenstill. Sophia musste ja nicht gleich am ersten Abend von ihr erfahren.
Sie tauchten in das Labyrinth der Straßen Arcanastras ein. Manche von ihnen waren so schmal, dass Emilys Koffer die Mauern auf beiden Seiten streifte. Bereits nach wenigen Schritten hatte Emily völlig die Orientierung verloren. Unbehaglich schaute sie sich um. Ein einsamer Hund huschte um eine Ecke, und der Wind trieb eine weggeworfene Zeitung vor sich her. Emily umklammerte den Rucksack mit Amy und ging so dicht hinter ihrer Großtante her, dass sie ihr manchmal auf die Pantoffeln trat. Auf keinen Fall wollte sie Sophia verlieren und dann alleine durch diese unheimlichen Viertel der Stadt irren müssen. Sie hätte sich nicht gewundert, wenn auf einmal eine Gestalt hinter einer Ecke hervorgesprungen wäre und ihr einen Dolch an die Kehle gehalten hätte, um sie auszurauben. Wenigstens säumten Gaslampen die Wege und verbreiteten ein fahles Licht.
Dann bogen sie in ein anderes Viertel ein. Hier waren die gepflasterten Wege sehr viel breiter und belebter. Es gab eine Apotheke, ein Sanatorium und kleine Cafés mit Grammophonmusik. Neugierig beobachtete Emily all die Menschen, denen sie begegneten. Die meisten von ihnen trugen Kleidungsstücke, die auf Emily sehr altmodisch wirkten. Wenn sie die Stadt und ihre Bewohner betrachtete, kam es ihr vor, als wäre sie in einer uralten Fotografie gelandet. Allerdings gab es auch Leute, die sich eher ausgefallen kleideten. Emily fiel mit ihren geringelten Strümpfen unter dem knielangen Rock jedenfalls nicht auf.
„Das ist die Straße der Werkstätten. Hier werden die Mechaniken Arcanastras konstruiert“, erklärte
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