Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)
Leid… ich habe den Stern erst danach gesehen.“
„Und es hat dir eine Gabe geschenkt?“, wollte Sophia wissen.
Emily schüttelte den Kopf. „Nur fast. Aber wenn ich es nicht zugeklappt hätte, wahrscheinlich schon.“
Sophia seufzte. Dann sagte sie:
„Es ist gut, dass du so schnell reagiert hast. In diesen Büchern wohnen sehr starke Kräfte. Wenn sie dir eine Gabe schenken, entsteht eine untrennbare Verbindung zwischen euch… und es ist nicht klug, den Büchern zu viel Macht über dich zu geben.“
Verwirrt hörte Emily zu.
„Aber es ist doch nett, wenn sie einem eine Gabe schenken“, warf sie ein.
„Nett?“ Sophia lächelte ein bisschen. „Vielleicht, vielleicht auch nicht.“
„Du… hast auch eine, hat Finn erzählt. Eine Gabe“, sagte Emily.
„Ja, er hat Recht.“ Sophia rieb sich die Augen, als wäre sie auf einmal sehr müde. Leider hatte sie nicht vor, Emily zu erzählen, welche Gabe das war. Stattdessen sagte sie:
„Vergiss das nie: Die Bücher können gefährlich sein. Weil ihre Macht schwer zu kontrollieren ist. Und weil das Wissen so oft missbraucht wird und Unheil über die Menschen bringt.“ Sie schwieg eine Weile. „Aber jetzt genug davon. Sei einfach vorsichtig, wenn du in den Büchern liest. Du wirst es immer früh genug merken, wenn sie nach dir greifen… du hast dann noch genügend Zeit, das Buch wegzulegen. Die gefährlichsten von ihnen stehen ohnehin in der unterirdischen Bibliothek.“
Emily nickte, doch sie war nicht überzeugt. Der Gedanke, eine Gabe zu bekommen, war einfach zu verlockend.
Gerüchte
Einige Tage später zeigte Sophia ihrer Großnichte den Weg zum Skriptorium, in dem die Buchbinder ihr Reich hatten. Es befand sich in einem der Gebäude vor der Bibliothek.
„Hier solltet ihr abgeholt werden“, verkündete Sophia, als sie und Emily vor dem Gebäude ankamen. Ein Junge wartete bereits dort – Sophia hatte Emily gesagt, dass auch er ein neuer Buchbinder sei. Sein Name war Miki.
„Pünktlichkeit ist eine wichtige Tugend“, nickte Sophia ihm zu. Sie selbst hatte Emily wie gewöhnlich viel zu spät geweckt.
„Also dann, einen schönen Tag“, meinte Sophia. Sie lächelte den beiden Kindern zu und ging Richtung Bibliothek davon.
„Gleichfalls“, sagte Emily. Dann drehte sie sich etwas verlegen zu Miki um. Sie hatte ihn schon einige Male gesehen, aber noch nicht mit ihm gesprochen. Er hatte rabenschwarze, glatte Haare und schmale schrägstehende Augen. Für sein Alter war er nicht sehr groß. Seine Kleidung sah aus, als wäre sie aus einer Art Fell gefertigt, und um den Hals trug er ein Lederband mit aufgefädelten Reißzähnen einiger Raubtiere.
„Du bist auch ein Buchbinder, oder?“, sagte Emily. Etwas Klügeres fiel ihr nicht ein.
Miki nickte. Auch er schien etwas verlegen zu sein. Er räusperte sich.
„Vielleicht sollten wir reingehen?“, schlug er vor. „Ich weiß nicht, ob sie uns hier suchen kommen.“
Sie traten durch die Tür und kamen in eine Art Eingangshalle, die jedoch leer zu sein schien. Die Schritte der beiden Kinder hallten auf dem steinernen Boden.
„Vielleicht dort drüben“, sagte Emily. Miki folgte ihr zu einer offenstehenden Tür, die in einen großen runden Saal führte. Er wurde von Säulen durchzogen, die in Bögen endeten. Darunter standen mehrere Geräte. Mit all ihren Hebeln, Rädchen und Zylindern sahen sie ziemlich seltsam aus. Im ganzen Raum herrschte große Betriebsamkeit. Als Emily sich umschaute, entdeckte sie Mr. Shaddock. Er war einer der Buchbinder, welche die Geräte bedienten. Nachdem sie ihn eine Weile beobachtet hatte, begriff sie, was er und die anderen im Saal taten.
„Sie stellen Papier her“, murmelte sie.
Rahmen, die mit feinem Draht bespannt waren, wurden in Behälter getaucht. In diesen befand sich ein Gemisch aus Wasser und Holzfasern von Silberbuchen. Wenn man den Rahmen wieder herauszog, lag eine dünne Schicht dieser Fasern auf dem Drahtgeflecht – ein tropfnasses Stück Papier. Diese Blätter mussten anschließend in den Geräten gepresst werden. Sie waren sehr viel größer und komplizierter als die Papierpressen, die Emily kannte.
Endlich wurden Emily und Miki bemerkt. Madame Foucault, die Oberste Bibliothekarin, eilte durch den Saal auf sie zu. Im Arm trug sie zwei dicke, abgegriffene Bücher. Sie stellte sich Miki vor, dann trat sie zu Emily und sagte:
„Wir haben uns ja bereits kennen gelernt. Es freut mich, dass ihr zu den Buchbindern gehört. In diesem Saal findet
Weitere Kostenlose Bücher