Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)
Sie goss den Tee so schwungvoll in die Tassen, dass es nach allen Seiten spritzte.
„Autsch“, jammerte Emma und rieb sich den Arm. „Du verbrühst mich noch!“
In diesem Moment fühlte Emily eine Berührung… ein kalter Hauch strich über ihre Schulter. Sie zuckte zusammen und rutschte vor Schreck näher zu Miki.
„Was hast du?“ Miki schaute sie stirnrunzelnd an.
„Da war was“, flüsterte Emily und starrte auf die Stelle… doch da war nichts zu sehen.
„Bestimmt Jurek“, meinte Emma. „Hey, Jurek, sag hallo.“
„Wer ist Jurek?“ Emily flüsterte noch immer.
„Das unsichtbare Kind“, erklärte Emma.
Emily schaute sich unbehaglich um. Das klang ziemlich unheimlich, fand sie.
„Du kannst ihn nur sehen, wenn er sich irgendwo spiegelt“, sagte Miki. „Dort, schnell.“
Emily drehte den Kopf. Das unsichtbare Kind lief vor einer Vitrine hindurch, und Emily konnte im spiegelnden Glas gerade noch einen Blick auf Jurek werfen. Er sah aus wie ein ganz normales zehn- oder elfjähriges Kind.
„Hat wohl gerade keine Lust, sich zu unterhalten“, meinte Emma unbekümmert. „Die unsichtbaren Kinder sind ein bisschen empfindlich.“
„Wärst du ja vielleicht auch, wenn du eine von ihnen wärst“, meinte Miki. Emma zuckte die Schultern. „Wieso? Unsichtbar zu sein ist doch praktisch. Ich jedenfalls wäre froh, wenn Leo mich nicht sehen könnte.“
„Ist aber bestimmt nicht immer lustig, kann ich mir vorstellen“, gab Miki zurück.
„Aber, woher kommen die unsichtbaren Kinder?“, wollte Emily wissen. „Ich meine, was sind sie?“
Julie schob die Teekanne auf dem Tisch umher. „Das weiß niemand so genau. Aber ihr…... hm… Zustand hat natürlich etwas mit den verborgenen Büchern zu tun. Nur die unsichtbaren Kinder selbst könnten erzählen, was genau geschehen ist, doch offensichtlich wollen sie das nicht. Irgendwann sind die ersten von ihnen hier aufgetaucht, und jetzt leben die meisten hier. Obwohl sie uns nicht unbedingt mögen.“
„Beneiden uns um unsere Sichtbarkeit“, murmelte Miki.
Julie nickte. Dann griff sie nach der Kanne und schenkte den Kindern Tee nach.
„Trinkt“, sagte sie.
Als die Glöckchen über der Werkstatttür klingelten, sahen alle dorthin, doch es war nicht das unsichtbare Kind, das eintrat, sondern ein überaus sichtbarer Mann. Sein Bauchumfang übertraf sogar den von Julie.
„Kann ich Ihnen helfen?“ Julie eilte zu dem Mann, der sich unschlüssig umsah.
„Tja, ich suche etwas...“ Er schaute zu den Kindern und senkte die Stimme. Emily und ihre Freunde versuchten, möglichst uninteressiert zu wirken. Sie taten so, als wären sie damit beschäftigt, mit Begeisterung ihren Tee zu trinken. Doch sie ließen sich kein Wort entgehen
„Meine Frau möchte wissen, ob ihre fiese Schwester sie vergiften will, und wann das sein wird“, flüsterte der Mann.
„Ich glaube nicht, dass ich etwas habe, das Ihnen weiterhilft“, sagte Julie und schaute unbehaglich zu den Kindern.
„Man hat mir aber gesagt, dass sie hier auch…“
„Schscht!“, machte Julie verzweifelt und schob den Mann Richtung Tür.
„Was ist denn zum Beispiel damit?“, fragte der Mann und griff nach einer Art Kompass, dessen Nadel wie verrückt im Kreis herum wirbelte und Funken sprühte.
„Nein… ist kaputt… funktioniert überhaupt nicht…“ Julie war einem Nervenzusammenbruch nahe.
„Ach ja?“ Zweifelnd legte der Mann den Kompass zurück und streckte die Hand nach einer glatten silbernen Kugel aus.
„Und diese hier?“, fragte er.
„Vorsicht, sie…“, rief Julie. Der Mann stieß einen Schmerzensschrei aus und ließ die Kugel fallen.
„…ist ein wenig aggressiv“, schloss Julie betrübt. Die Kugel rollte über den Boden und an der Nische vorbei, und Emily sah die Stacheln, die jetzt aus ihr herausragten.
„Das ist doch… Sie wollen mir gar nicht helfen! Stecken Sie vielleicht mit der Schwester meiner Frau unter einer Decke? Ich schwöre Ihnen…“ Der Mann holte wütend Luft.
„Ja, ja“, murmelte Julie und öffnete die Tür. „Kommen Sie bald wieder, und wenn Sie zufrieden waren, empfehlen Sie meine Werkstatt bitte weiter.“
Damit schob sie ihn endgültig hinaus. Eine Weile blieb der Mann mit offenem Mund stehen, dann ging er schimpfend davon. Erschöpft ließ Julie sich auf einen Stuhl fallen.
„Ich glaube, ihr geht jetzt besser“, sagte sie zu den Kindern. „Die Werkstatt ist geschlossen. Noch mehr Aufregung vertrage ich heute nicht.“
Emily,
Weitere Kostenlose Bücher