Hüterin der Nacht: Roman (German Edition)
Gedanken hätte ich mich am liebsten übergeben.
Jin berührte leicht meinen Rücken und riss mich aus meinen Gedanken und Ängsten, dann ging er fort, um uns etwas zu trinken zu besorgen, und überließ mich dem Gespräch mit diesen Leuten, die ich absolut nicht näher kennenlernen wollte. Gautier musterte mich wie eine Spinne, sagte nichts und zeigte bloß sein kaltes, giftiges Lächeln. Mein Instinkt schrie mir förmlich zu, ich sollte wegrennen, solange ich noch konnte.
Aber Gautier würde mich nicht gehen lassen. Das wusste ich. Was auch immer er für ein Spiel trieb, ich war mittendrin gefangen und hatte keine andere Wahl, als den Abend verstreichen zu lassen und abzuwarten, was passierte. Zu sehen, was sie vorhatten.
Als Jin mir ein Glas Rotwein reichte, trank ich gierig ein paar Schlucke. Der Wein löste zwar kaum die Anspannung in meinem Körper, aber zumindest war er nass und half gegen meinen trockenen Hals.
Nach ungefähr fünf Minuten belanglosem Gerede über das Wetter und dergleichen ertönte hinter uns eine kleine Klingel. Als wir uns umdrehten, brannten die Kerzen auf dem Tisch, ergossen ihr warmes Licht auf Kristall und Silber und ließen regenbogenfarbene Lichtreflexe durch den Raum tanzen.
Kingsley stand wie ein König, der seine Untertanen überwacht, am Kopfende des Tisches. Er suchte meinen Blick und sah mir unverwandt in die Augen. Kurz setzte mein Herz aus, dann raste es noch mehr. Das Schlimmste war, dass ich nicht wusste, ob das von der Angst oder von etwas anderem herrührte. Daher, dass ich mich nach einer Behandlung sehnte, die mir ganz offensichtlich überhaupt nicht guttun würde.
»Jin, du und die reizende Riley sitzen heute Abend mit mir am Kopfende des Tisches.«
Er sagte das, als würde er uns damit ein großes Geschenk machen, und für Jin schien es das tatsächlich zu sein. Er strahlte über das ganze Gesicht, als er mich zu meinem Stuhl rechts neben Kingsley begleitete. Ich legte meine Tasche auf den Tisch, nahm beiläufig eine weitere Wanze auf meine Fingerspitze und ließ meine zitternden Hände sinken. Gautier beobachtete mich weiterhin, schwieg aber weiterhin. Ich klebte die zweite Wanze unter meinen Stuhl und hoffte inständig, dass sie trotz der magischen Abwehrtechnik hier drin funktionierte.
Die Kamera, die lediglich wie eine etwas größere Silberperle auf meiner glitzernden Tasche aussah, musste eigentlich auf einem höheren Standpunkt platziert werden, doch das war momentan unmöglich.
Kingsley nahm eine Weinflasche, die in der Nähe stand, und füllte mein Glas auf. Dann griff er sein eigenes und hielt es hoch.
»Auf neue Freunde und gute Zeiten.« Er stieß leicht mit seinem Glas gegen meins, dann an Jins.
»Und eine lange Nacht voller Lust und Leidenschaft«, fügte Jin hinzu. Sein Blick war so intensiv, dass er kleine Blitze meinen Rücken hinauf- und hinunterjagte, und das, obwohl ich große Angst hatte.
Aber die Lust, die Jin in mir auslöste, war nichts verglichen mit dem, was sein finsterer Meister neben mir bewirkte. Neben Kingsley zu sitzen war wie neben einem Wolf, der mit voller Kraft seine Aura verströmte. Es trieb mir den Schweiß auf die Stirn und erregte mich, wie ich es noch nie erlebt hatte.
Wäre er ein Werwolf gewesen, hätte ich einfach meine eigene Aura einsetzen können, um seine zu dämmen. Aber wie wehrte man sich gegen die Kraft von einem Gott der Finsternis? Vor allem wenn er in einem menschlichen Körper auftrat? Ich konnte meine Aura noch nicht einmal benutzen , denn außer Gautier wusste niemand im Raum, dass ich ein Wolf war, und ich wollte, dass das auf jeden Fall so blieb.
Wenn Gautier es zuließ.
Frauen, die sich leise wie Geister durch den Raum bewegten und im Gesicht genauso blass waren wie diese, servierten das Essen. Es waren allerdings keine Geister. Das hätte ich aufgrund meiner zunehmend innigen Verbindung zum Tod gemerkt. Aber ihre Augen und ihre Gesichter wirkten wenig lebendig. Vielleicht hatte Kingsley alle Energie und alles Leben aus ihnen herausgesaugt.
Alle bis auf Gautier aßen, tranken und plauderten weiter, während das Essen serviert und abgeräumt wurde. Mit einer Sache hatte Jin recht: Das Essen war hervorragend.
Je weiter der Abend voranschritt, desto schwummeriger wurde mir, als hätte ich zu viel getrunken. Ich war entspannt und etwas zu locker. Eigentlich hatte ich nach der Vorspeise aufgehört, Wein zu trinken, aber mein Kopf wurde dennoch nicht klarer. Es fühlte sich seltsam an, als wäre
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