Hüterin der Seele -: Sea Haven 2 (German Edition)
richtig gehalten hätten, aber das ließ sich nicht ändern. Sie gingen ihren eigenen Weg und Judith ließ sich voll und ganz auf ihr Leben in Sea Haven ein, der kleinen Ortschaft, in der sie arbeitete.
Sie sahen sich als eine Familie an und genau das waren sie auch – Schwestern. Viele Menschen hatten Seelenverwandte, die keine Blutsverwandten, sondern ihre selbst gewählten nächsten Angehörigen waren, und auf ihre Seelenfamilie war sie in ihrer finstersten Stunde getroffen. Diese Frauen hatten ihr das Leben gerettet. Vor fünf Jahren hatten sie den Entschluss gefasst, gemeinsam eine Farm am Ortsrand von Sea Haven an der nordkalifornischen Küste zu kaufen. Es war eine kleine Gemeinde mit festem Zusammenhalt, da die Einwohner aufeinander angewiesen waren, um Erfolg zu haben, und das führte bei allen zu großer Freundlichkeit und Toleranz.
»Alles klar, Judith?«, rief Airiana wieder, diesmal hartnäckiger.
Das war eine übliche Frage, die sie sich gegenseitig stellten.
»Ich komme gleich«, sagte sie noch einmal und wich damit der Frage aus. Es war nie gut, rundheraus zu lügen. Schlechtes Karma. Und Airiana war sowieso sehr gut darin, Lügen zu durchschauen.
Unter all ihren Schwestern war Airiana diejenige, die es einem am schwersten machte, sie irrezuführen. Ebenso wie Judith konnte auch sie die Aura von Menschen sehen und deuten, das elektromagnetische Feld aus reiner Energie, das jeden umgab. Sie sah die Energien in Form von Farben, in die Menschen eingehüllt waren und die nicht nur über ihre Gefühle, sondern auch über ihren Charakter viel aussagten. Judith traute ihrer Gabe selten. Airiana dagegen verließ sich vollständig auf diese Gabe. All ihre Schwestern wussten, dass Judith keinen guten Tag hatte, wenn sie sich in dieses spezielle Studio begab.
Judith packte sorgfältig all ihre Pinsel und Farben weg und verhängte die Leinwand, an der sie arbeitete. Niemand durfte dieses Gemälde jemals sehen. Niemand durfte jemals einen Blick in das finstere, strudelnde Kaleidoskop werfen. Diese Werke übten einen viel zu starken Einfluss auf die Sinne aus, denn ihre Entstehung entstammte einem abschreckenden, hoffnungslosen Ort in ihrem Innern, den sie sich selbst nur selten aufzusuchen gestattete, aber manchmal blieb ihr nichts anderes übrig.
Mit Bedacht verriegelte sie die Glastüren und zog die dicken, schweren Vorhänge vor, um jedes Licht auszusperren und jeden Blick in dieses Studio zu verhindern.
Sie blies die vielen Kerzen aus und tauchte den Raum in Dunkelheit. Dann atmete sie tief den beschwichtigenden Lavendelgeruch ein, während sie darum rang, ihren Frieden wiederzufinden. Nachdem sie ihren düstereren Emotionen stundenlang die uneingeschränkte Herrschaft überlassen hatte, kostete es sie Zeit, sie wieder zuzudecken und innere Ruhe zu finden. Wenn sie in Gesellschaft anderer Menschen war, musste sie zu jedem Zeitpunkt ihre vollständige Gemütsruhe bewahren.
Judith atmete noch einmal tief den Lavendelgeruch ein, der sich jetzt schon abschwächte, und trat in den Flur ihres Hauses. Die wohltuende Farbe von Elfenbein schlug ihr entgegen. Sie sah alles als eine Leinwand an, darunter auch – wenn nicht sogar insbesondere – ihr Haus. Da jede der Schwestern ihren eigenen ausgewiesenen Anteil an der Farm von jeweils zwei Hektar Land besaß und jede sich ihr eigenes Haus entwerfen konnte, hatte sie mit einer erstaunlich leeren »Leinwand« begonnen.
Das Erdgeschoss war ganz allein ihr Werk, die drei Studios, ein Freizeitraum, ein Bad und ein Schlafzimmer für den Fall, dass sie bis tief in die Nacht hinein arbeitete und so kaputt war, dass sie sich nicht die Mühe machen wollte, nach oben zu gehen. Ihr Wohnbereich war geprägt von Glas und den Ausblicken auf die Gärten, von denen das Haus umgeben war. Großzügige und einladende Räumlichkeiten, in denen man sich nie beengt fühlte. Sie liebte ihr Haus und den hart erarbeiteten Frieden, den sie hier fand.
Als sie Airiana im Flur begegnete, umarmte sie ihre Schwester kurz.
»Ich habe mir Sorgen gemacht«, gab Airiana zu, und ihre tiefblauen Augen suchten Judiths Gesicht nach verborgenen Schatten ab. »Du gehst nur dann in dieses Studio, wenn du wirklich aufgebracht bist, Judith. Du bist seit ein paar Wochen nicht mehr dort gewesen.«
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. In den allerletzten Tagen, die zum Jahrestag von Pauls Ermordung führten, hatte Judith nicht schlafen können, und sie hatte etliche Nächte in dem Studio verbracht,
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