Hüterin der Seele -: Sea Haven 2 (German Edition)
immer es war, vielleicht Besessenheit – und Stefan begann dieses Wort zu verstehen –, jedenfalls sagte der Ausdruck auf Jean-Claudes Gesicht, als er auf die lachende Judith hinunterblickte, einfach alles. Er würde jeden Preis bezahlen, um sie zu behalten. Falls der Mann den anderen Agenten entwischen konnte, würde er mit absoluter Sicherheit nach Sea Haven gehen, um dort zu holen, was er als sein Eigentum ansah – und dazu zählte Judith.
Stefan las das Dokument sorgfältig und prägte sich das Gelesene ein, ehe er sich die wenigen Fotografien von Judiths Werken nach ihrer Flucht von La Roux ansah. Jedes einzelne Gemälde war gut, daran bestand kein Zweifel, aber ihre späteren Arbeiten unterschieden sich sehr von den früheren. In ihren Ausführungen war sie sehr maßvoll und zurückhaltend und zeigte die ungeheure Schönheit dessen, was sie darstellte. Makellose Farbgebung, eine kühne, mutige Pinselführung, aber die Gemälde selbst waren in seinen Augen flach. Sie waren immer noch wunderschön, aber sie – Judith, die Essenz der Frau – war nicht mehr vorhanden. All ihre Leidenschaft und Glut waren beherrscht, verschwunden, ersetzt durch eine Maske, die gut, sogar brillant, aber nicht echt war.
»Jetzt ist es zu spät, um dich zu bedecken. Ich sehe dich«, flüsterte er wieder. »Ich komme dich holen.«
Er presste seine Finger direkt über seine Augen und drückte dort, wo die Kopfschmerzen einsetzten, fest zu. Das konnte ihm alles gestohlen bleiben. Er wollte kein anderes Leben. Er träumte nicht von einem anderen Leben. Er spielte mit dem Blatt, das an ihn ausgegeben worden war, wie der Automat, zu dem er mühsam geworden war, weil er sich selbst dazu erzogen hatte. Er fühlte nichts. Er wollte auch gar nichts fühlen. Er dachte nicht mehr an seine Eltern und daran, wie eines Nachts seiner Mutter und seinem Vater Waffen an den Kopf gehalten und abgedrückt worden waren. Innerhalb von vier Wänden gab es keine Sicherheit. Für ihn würde es nirgendwo Sicherheit geben – niemals. Und jeder, der mit ihm zu tun hatte, würde in Gefahr sein. Jeder, den er liebte, würde ihm genommen werden. Besser gar nicht erst das Risiko eingehen, also nie etwas empfinden.
Er wiederholte das Mantra und sprach es mit leiser Stimme aus. Er hörte seine Schritte auf dem Teppich, ehe er seine eigenen Absichten kannte. Er ging zu der Kommode und nahm die Fotografie von Judith Henderson wieder in die Hand, denn die Kraft, die ihn anzog, war zu stark, um ihr zu widerstehen. Eine Frau, die sieben Sprachen beherrschte. Intelligent. Schön. Eine Künstlerin. Er wusste nicht einmal, wie das wäre – die Freiheit zum Malen zu besitzen, die Freiheit, das eigene Herz und die eigene Seele auf eine Leinwand zu verströmen.
Er beherrschte viele Sprachen. Er war intelligent. Und er kannte sich mit Malerei aus. Sogar bestens. All das war notwendig für seinen Beruf, für die Aufgabe, eine Haut abzuwerfen und sich eine andere zuzulegen. Seine Schläfen pochten und er ließ sich wieder auf den Sessel sinken, mit dem Foto in der Hand. Was hatte sie bloß an sich? War es dieser verlorene, einsame Gesichtsausdruck? Der Wind in ihrem Haar? Die Sonne, die auf das Wasser schien? Seine Phantasie, die so lange Zeit unterdrückt worden war, entzündete sich trotz seines Verlangens, sie zu unterdrücken. Sie wartete darauf, dass jemand kam und diese Leidenschaft und Glut freisetzte. Sie wartete auf den richtigen Mann, um sie ihm zu geben.
Wie zum Teufel kam er auf solche Gedanken?
2.
D unkle Purpurtöne, durchsetzt mit wogenden schwarzen Linien, zogen über die hohe Kobaltdecke und weinten kristalline Tränen. Wenn der Raum von so viel Kummer erfüllt war, wurden Stein und Holz von der Intensität der Gefühle nahezu gesprengt. Der Kummer war ein eigenständiges atmendes Lebewesen.
Rasende Wut war in diesen Wänden in Bewegung und atmete ein und aus, sodass die breiten roten und orangen Schlitze, klaffende Wunden, ständig wogten, sich wölbten und sich ausbeulten und dann wieder zurückgepresst wurden; ein tiefes Einatmen, ein wiederholtes Luftschnappen, um die gewaltige Wut zu beherrschen, das Verlangen nach Vergeltung, nach Rache. Rasende Wut lebte und atmete neben dem Kummer.
Durch die offenen gläsernen Schiebetüren, die auf die Terrasse und den Hinterhof führten, wo hohe Gräser den Blick auf das Studio von draußen vollständig versperrten, wehte eine Brise und neckte die flackernden Flammen an der Spitze jeder der dunklen Kerzen,
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