Hüterin der Seele -: Sea Haven 2 (German Edition)
Wasser. Ihr liebster Platz zum Lesen befand sich unter einem der größeren Ahornbäume. Ein Teil von ihr wünschte, sie wäre jetzt dort draußen in der kühlen Nacht und säße, während der Wind ihr ins Gesicht wehte, an ihrem Koi-Teich.
»Komm her, schau es dir an«, forderte er sie auf.
Ihr Herz machte einen Satz. Sie sah ihm in die Augen und wappnete sich, schloss die Augen und holte tief Atem. Es würde kein Zurück geben, wenn sie erst einmal in sein Kaleidoskop sah. Sie würde seine wahre Natur erkennen. Und sie würde wahrscheinlich der einzige Mensch auf Erden sein, der sie kannte.
Sie nahm das Kaleidoskop behutsam in beide Hände und drehte es. Ehe sie es an ihr Auge hob, warf sie einen schnellen Blick auf ihn. Licht ergoss sich durch die Objektkammer und erhellte die Bilder, sodass das Siebenkantprisma wie ein neues Sternbild schlagartig zum Leben erwachte. Kleine Blutstropfen fielen vor weißem Schnee und die Bewegung war so fließend und anmutig, als könnte sie jenen Mord vor langer Zeit sehen, mit dem Stefans Kindheit abrupt ein Ende fand.
Die Szene in der Kammer war faszinierend, fast schon hypnotisch und sehr intensiv. Das dichroitische Glas veränderte seine Farben, dunkel und hell, Blutrot und Schwarz verwandelten sich in hellere Farben, ebenso wie Stefan als Abschluss jedes Auftrags von einer Haut in eine neue Haut schlüpfte, die alte abwarf und eine neue anlegte. Dunkelheit senkte sich herab und Farben durchbrachen sie explosiv; sie brachten Sterne aus Edelsteinen, die durch die diversen Waffen und Ackerbaugeräte glitzerten.
Durch den Strom von Waffen kamen unerwartete Dinge, langes schwarzes Haar, das wie zarte Seide herabfiel, winzige Muschelschalen, die durch blaugrüne Wellen taumelten; zwei goldene Ringe, die miteinander verschlungen waren, ein kleines Amulett aus Zinn, auf dessen einer Seite Freude stand, auf der anderen die japanische Glyphe. Ein Kimono, der inmitten eines Feldes aus weißen Siebensternen lag.
Judiths Herz verkrampfte sich. Dunkelheit strömte durch die Kammer, als sie sie langsam umdrehte. Schatten spielten auf den Rändern der Sterne, während Blutstropfen auf den Schnee wie Regen fielen. Das war Stefans Welt aus Hoffnung, Leid und künstlerischem Schaffen. Er war sowohl ein Mörder als auch ein Liebender. Er war ein Mann mit Prinzipien, mit einem strengen Ehrenkodex und ungeheurer Disziplin. Alles in seiner Objektkammer drehte sich um Dualität. Er hatte zwei Seiten, und der Fall von seidigem Haar, die Muscheln, die Ackerbaugeräte, die doppelten Ringe, sogar die japanischen Symbole waren sein Ausblick auf eine Zukunft.
Dieser Mann war zu Liebe fähig und er war auch dazu fähig, seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Und all sein Sehnen galt einer einzigen Frau. Ihre Initialen befanden sich in diesem Kaleidoskop. J.H. Sie sah sie dort gemeinsam mit den Initialen S.P. Für sie war von großer Bedeutung, dass er nicht ein T.V. für Thomas Vincent genommen hatte. Für sie – bei ihr – gab er sein wahres Ich preis. Er hatte nicht versucht, sich vor ihr zu verbergen. Er hatte ihr seine Vergangenheit, seine Gegenwart und seine Hoffnung auf eine Zukunft preisgegeben.
Tränen verschleierten ihren Blick. Alles an dem Kaleidoskop sprach sie an. Es war durch und durch maskulin und ohne Ausschmückungen und Schönfärberei, ganz so wie Stefan. Es war eine stille Erklärung, eine Absichtsbekundung. Sie hatte das Gefühl, ihn bereits zu kennen und zu wissen, dass er einen einmal gefassten Entschluss nie widerrufen würde. Für ihn waren Entscheidungen in Stein gemeißelt, wie es hier geschrieben stand, in diesem umwerfenden Geschenk, das er ihr gemacht hatte.
Es musste ihm schwergefallen sein, sich freiwillig so angreifbar zu machen. Er musste wissen, dass sie sein unversöhnliches Wesen sehen würde. Der Krieger in ihm war so tief verwurzelt, dass es unmöglich sein würde, ihn jemals auszumerzen. Diese unnachgiebige Härte, auf die sie zwischendurch stoßen würde. Der seidige Fall des mitternachtsschwarzen Haares vor diesem schrecklichen Schneefall und den Blutstropfen sandte Glut in ihren Körper, die sich spiralförmig ausbreitete. Das Bild war sanft und sinnlich und kam ganz unerwartet – ein Zeugnis der heilenden Kraft der Liebe. Ihr Stefan war Künstler und Killer zu gleichen Teilen.
Und dann brachte die letzte Umdrehung eine schwarze Mistgabel, die von goldenen Flügeln bedeckt wurde. Sein gefallener Engel. Seiner . Er hatte sie für sich gefordert und
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