Hüterin der Seele -: Sea Haven 2 (German Edition)
dienen, sie zu leiten, ohne die Erinnerung zu unterwandern, in deren Enge sie eingesperrt war.
»Sie sind alle aufeinander losgegangen. Es war ein grässliches Blutbad und die Schüsse waren so laut, dass sie von den Wänden widerhallten. Männer haben geschrien und gebrüllt.« Sie schnappte nach Luft, ihre Augen waren jetzt wild und sie zitterte von Kopf bis Fuß. Judith hob ihre Handflächen und blickte auf sie hinunter, als seien ihre Hände und ihre Arme mit dem Blut ihres Bruders überzogen.
Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Die Polizei kam.«
Ihre Augen trübten sich und zeigten ihm ein Spiegelbild des Grauens, mit dem sie in jenem Augenblick konfrontiert gewesen war. Er konnte Blut an den Wänden herunterlaufen und Pfützen sich auf dem Boden bilden sehen. Blut bespritzte ihr Gesicht und ihre Kleidung, als sie neben ihrem leblosen Bruder kniete, dessen Körper so zerfetzt war, dass man ihn kaum noch als menschlich erkennen konnte.
»Ich glaube, ich stand unter Schock. Ich kann mich nicht erinnern, irgendetwas gedacht zu haben. Ich habe nur noch gefühlt . Eine solche Wut. Eine solche Dunkelheit. Ich habe Jean-Claude gehasst. Ich hasse ihn immer noch. Aber viel schlimmer war der Schmerz, Paul auf diese Weise verloren zu haben. Er war so heftig und so schonungslos, dass ich ihn nicht eindämmen konnte.«
Ihr war offensichtlich nicht bewusst, dass Tränen über ihr Gesicht strömten, als sie blinzelte, um ihn anzusehen. Sie schüttelte den Kopf und auf ihrem Gesicht stand Verwirrung. »Ich kann mich nicht erinnern, was ich getan habe. Ich versuche es immer wieder, aber ich kann nur die Stimmen der Polizisten hören, die sich gegenseitig anschrien. Ich habe versucht meinen Bruder zu reanimieren, aber der Brustkorb und der Kopf meines Bruders waren mit Blut bedeckt, das immer wieder über meine Arme und meine Hände gespritzt ist. Das Geräusch war so grässlich.« Sie presste sich beide Handflächen auf die Ohren und stand kurz davor zu hyperventilieren.
Stefan stand auf und seine Bewegungen waren leise und sehr langsam. Sie war tief in der Erinnerung an jenen Moment versunken und ihre Gefühle waren, wie damals, außer Kontrolle. Der Wind strömte durch das Haus. Die Vorhänge spielten verrückt. Er wusste, dass sie es nicht sah, und sie bemerkte auch nicht das heftige Einhämmern auf ihn, als sie die Ermordung ihres Bruders noch einmal durchlebte. Mit großer Behutsamkeit nahm er ihre Handgelenke und zog daran, um ihre Hände auf seinen Brustkorb zu legen und sich dicht vor sie zu stellen. Ihr Körper war kalt, ihre Hände wie Eis.
»Die Polizei ist eingetroffen, Judith.«
Sie keuchte leise und blickte mit benommenen Augen zu ihm auf. »Einer der Polizisten kam ganz nah zu mir. Ich vermute, er wollte mir helfen.« Sie zog die Stirn in Falten und machte den Eindruck, als sei sie verwirrter denn je. »Überall war so viel Blut. So viel Schmerz. Mein Kummer war so groß. Ich wollte den Platz meines Bruders einnehmen, da sein, wo er war. Mit tat so furchtbar leid, was ich getan hatte, und ich habe mich so schuldbewusst gefühlt, dass …«
Er wartete, obwohl er sie unbedingt in seine Arme ziehen, sie festhalten und alldem ein Ende bereiten wollte, doch er wusste, dass es nichts ändern würde. Sie würde immer wieder zu diesen Momenten zurückkehren, die für alle Zeiten tief in ihr Gedächtnis eingraviert waren.
Judith schluckte mehrfach, öffnete den Mund und schloss ihn wieder, rang nach Luft und krallte ihre Fäuste in sein Hemd, als bräuchte sie ihn als ihren Anker. »Der Polizeibeamte hat eine Waffe gezogen und sie an seinen Kopf gehalten. Er hat sich erschossen, an Ort und Stelle, bevor jemand kapiert hatte, was er vorhatte. Er stand dicht neben mir. Gerade eben hatte er sich noch hinuntergebeugt, um mir zu helfen, und im nächsten Moment war sein Blut überall und seine Leiche ist auf mich gefallen.«
Stefan schloss für kurze Zeit die Augen, denn der Kummer lastete so schwer auf seinem Herzen, dass er sich davon erdrückt fühlte. Er wusste, dass es ihr Kummer war, ihr Körper, der unter dem toten Polizisten fast erdrückt wurde. Wenn man bedachte, dass er ein Mann war, der für den größten Teil seines Daseins seine Gefühle fest unter Verschluss gehalten hatte, dann bekam er jetzt einen Crashkurs im wahren Leben mit einer Frau, die ein Mann liebte. Das Bild, wie sie im Blut ihres Bruders lag und die Leiche des unschuldigen Polizisten sie zerquetschte, stand allzu realistisch vor
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