Hüttengaudi
die Beerdigung der Tochter, dann die der Mutter. Und irgendwann ist Sabine zusammengebrochen. Sie hat noch eine Schwester in Freiburg. Die hat sie geholt. Martin ist nach Frankfurt gegangen, alles zerfiel in Stücke.«
Irmi war tief betroffen. Sabine tat ihr leid. Das Kind und die Mutter in einem so kurzen Zeitraum zu verlieren, das musste die Hölle sein. Und dann einen Partner zu haben, der keinerlei Rückhalt bot. Sie schämte sich für die Verwünschungen, die sie seinerzeit gegen Sabine ausgestoßen hatte. Sabine war doch auch nur ein Opfer von Martins Kälte geworden. Martin, der einfach zumachte und alles verdrängte, der davonlief und sich immer wieder neue Leben zurechtlog. »Wer hat das Mädchen denn überfahren?«, fragte Irmi.
»Das hat das Ganze noch tragischer gemacht. Es war eine Neunzehnjährige, die frühmorgens auf dem Weg zur Arbeit war. Sie fuhr täglich von Aidling nach München.«
»Keine Mitschuld?«
»Das hätte Martin gerne gehabt. Aber das Mädchen konnte gar nichts dafür.« Wieder schossen der Nachbarin Tränen in die Augen.
Was für eine Tragödie! Eine Sekunde an einer nebligen Landstraße hatte das Leben von so vielen Menschen zerstört. Irmi schluckte. Erhob sich langsam. Bedankte sich.
»Hat Ihnen das denn nun weitergeholfen?«, fragte Helga Mayr.
»Bestimmt«, sagte Irmi, obgleich sie keine Ahnung hatte, was ihr das nun gebracht haben sollte. Außer dass sie wieder ganz grauenvolle Magenschmerzen verspürte.
Langsam fuhr sie zurück. Auch jetzt lag Nebel über dem Moos. Wenn eine Gestalt urplötzlich aus dem Nichts aufgetaucht wäre, hätte sie ganz sicher nicht ausweichen können.
Die Diensthabenden schauten sie etwas verwundert an, dass sie um diese Tageszeit noch auftauchte und sich in ihrem Büro verschanzte. Intensiv las sie alle Protokolle, alle Aussagen bis hierher und konnte ihr vages Gefühl nicht verscheuchen. Sie waren auf dem Holzweg, auch wenn sich das Team nun endgültig auf Zwetkow eingeschossen hatte. Oder den Hüttenwirt.
Irmi ließ das Video mit der sphärischen Filmmusik des »Adlers« laufen. Sie stand auf und ging zum Fenster. Draußen war es noch nebliger geworden, ab und zu irrlichterten Autoleuchten durch den Dunst, der das Licht so merkwürdig verzerrte. Irmi rutschte an der Wand hinunter und hockte am Boden. Lange saß sie so im Dunkeln, bis sie ihren Computer herunterfuhr und ins Auto stieg.
Zu Hause ging sie in den Kuhstall und blieb vor den Futterraufen stehen. »Na, Mädels, können wir tauschen? Ihr löst meinen Fall, und ich leg mich hier auf die faule Kuhhaut und käue wieder?« Die Mädels schauten sie äußerst kuhäugig an, ihre Lieblingskuh Irmi Zwo, eine Kuhoma im methusalemischen Nutztieralter, muhte leise. Leider würden ihr die Tiere auch nicht helfen können.
Bernhard war nicht zu Hause, worüber Irmi nicht unglücklich war. Ihr war nicht nach reden, heute nicht.
Sie duschte lange und viel zu heiß, ihr wurde richtig schwummrig, was auch daran liegen mochte, dass Irmi den ganzen Tag nichts gegessen, sondern nur Unmengen von Kaffee getrunken hatte.
14
Als sie am Freitagmorgen um acht auf der Polizeidienststelle in Murnau auftauchte, war sie froh, einen bekannten Kollegen zu treffen. Ein besonnener Mann, der ihrem Wunsch nachkam, die Akte der Todesfahrt herauszusuchen.
»Eine tragische G’schicht war das. Im Prinzip einfach ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände und natürlich immer derselbe Ärger mit diesen Feten.«
Irmi wartete.
»Bei euch da unten ist das, glaub ich, gar nicht so vertreten, aber hier heraußen hat bald jede Gemeinde so einen Bauwagen oder eine Saufhütte im Wald. Mädchen im Koma, Jungs so besoffen, dass sie mit dem Moped im Graben landen, und Anrufe von Kids, die ihre Eltern anzeigen.«
»Wie?«
»Ach, das kommt öfter vor. Hatten wir erst kürzlich. Eine Achtzehnjährige hat völlig zugedröhnt mit einem ebenfalls zugedröhnten Typen vor dem elterlichen Haus herumgelungert. Der Vater kommt heim, will den Typen verjagen und die Tochter ins Haus komplimentieren. Es gibt Streit, der Typ beschimpft den Vater und schubst ihn. Die Tochter geht dazwischen und haut dem Vater die unmöglichsten Schimpfwörter um die Ohren. Daraufhin gibt er ihr eine Watschn. Der Typ flüchtet, und das Gör ruft uns an, um den Vater anzuzeigen. Wir fahren hin, schlichten und lassen auf Wunsch des Vaters die Kleine mal blasen. 2,2 Promille, die ging aber noch ganz aufrecht und redete, ohne sonderlich zu lallen. Bei diesen
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