Hüttengaudi
Papiertaschentuch.
»Das ist so unfair!«
»Ach, Kathi, wann wäre das Leben je fair gewesen.«
»Tut mir leid, dass ich so … so …«
»Das muss dir nicht leid tun«, sagte Irmi lächelnd. Kathi Haudrauf Reindl ließ so selten etwas nach außen dringen. Heute hatte Irmi die Chance bekommen, hinter ihre Fassade zu sehen.
»Geht’s wieder? Können wir zum Vater von Margit fahren?«, fragte Irmi nach einer Weile.
»Sicher.«
Sie liefen zurück zum Hotel, das nun im Abendlicht dalag, und ließen sich an der Rezeption den Weg nach Dölsach erklären.
Nach einigen Irrfahrten auf kleinen Wirtschaftswegen erreichten sie den Ort. Sie parkten und standen etwas unschlüssig herum, weil Hausnummern fehlten. Aus einem Obstgarten kam eine Frau mit wilder Mähne. »Kann ich helfen?«
»Wir suchen Klaus Geipel, der soll hier irgendwo wohnen.«
»Der Klaus? Seids Bekannte aus Bayern?«
»Ja, genau.«
»Der Klaus wohnt da drüben. Ich bin die Silvana. Sein Auto ist aber noch nicht da. Wollts so lange reinkommen? Es wird saukalt.«
Sie sprach einen liebenswerten Dialekt und ging hinüber zu einem Haus, dessen Garten ein reines Kunstwerk war. Skulpturen, Wurzeln, Blumen – ein herrliches Stillleben. Das Innere des Hauses entpuppte sich als ein weiteres Juwel.
»Eine Schnapsbrennerei?«, fragte Irmi überrascht.
»Ja, ihr seht verfroren aus. Ich lass euch mal was probieren.«
»Äh, ich muss aber noch Auto fahren«, wandte Irmi ein.
»Du sollst dich auch nicht betrinken, sondern bloß kosten.«
Samtig rann die Flüssigkeit ins Glas, Irmi nippte vorsichtig und stutzte. Normalerweise war ihr der Schnaps zu kratzig im Hals, der hier hingegen ging runter wie Öl. Aber wonach schmeckte er bloß? Silvana lächelte, als wollte sie sagen: Ja, trau dich.
»Okay, er schmeckt nach Karotten«, sagte Irmi zögerlich.
»Genau, ich brenn auch Rote Beete. Alles, was man einmaischen kann und genug Zuckergehalt hat, kann einen schönen Schnaps ergeben. Der Urgroßvater hat schon gebrannt, und seit 1994 haben wir eine neue Anlage, den Kessel hat der letzte Kupferschmied aus Stams gemacht. In Nordtirol draußen.«
Sie schenkte wieder etwas ein, das sich als Apfel-Ingwer entpuppte. »Vogelbeere ist auch ein Klassiker. Sechzehn Leute aus der Familie und Bekanntschaft klauben eine Woche lang Vogelbeeren. Das sind sechshundert Stunden Arbeit! Entlohnt wird bloß mit Brotzeiten! Der Klaus war auch dabei.« Sie sah auf die Uhr. »Er kommt gleich. Er macht Urlaubsvertretung für den Tierarzt hier. Wir hoffen alle, dass er bleibt. So ein netter Mann. Und dann diese Tragik mit dem Madl. Es trifft immer die Netten.«
Irmi nickte verständnisvoll. »Wie lange ist die Margit denn schon hier?«
»Ein paar Monate. Am Anfang ist der Klaus noch immer hin und her gefahren von Bayern nach Lienz, seit drei Monaten wohnt er hier fest bei der Nachbarin in der Ferienwohnung. Damit er näher bei dem Madl ist.«
»Wann war er denn zum letzten Mal zu Hause in Bayern?«, fragte Irmi und hoffte, dass Silvana die Frage nicht merkwürdig fände.
»Ach, das ist schon eine Weile her. Die Urlaubsvertretung macht er seit drei Wochen, und das Gute am Klaus ist ja, dass er Tag und Nacht kommt. Unser Viechdoktor hat die Patienten nämlich am Wochenende immer in die Klinik geschickt. Der Klaus ist immer parat. So wie heute.«
Irmi sah zu Kathi hinüber. Wenn der Herr Viechdoktor immer parat war, hatte er sicher keine Zeit gehabt, zwei Tage in Garmisch und Oberstaufen zu verweilen. Verdammt, waren sie schon wieder auf dem Holzweg? Silvana war hinausgegangen, man hörte eine Tür, dann kam sie zurück: »Das Auto vom Klaus ist jetzt da.«
»Danke, was sind wir denn schuldig?«, fragte Irmi.
»Nix, Freunde von Klaus sind mir doch nix schuldig!«
»Dann möchte ich aber was mitnehmen!«, sagte Irmi. »Was empfiehlst du mir denn?«
»Apfelbrand mit Chili?«
»Klingt gefährlich. Genau den nehm ich – und einmal Karotte.«
Silvana reichte Irmi die beiden Flaschen und gab ihr noch zwei Gläser mit eingewecktem Paprikamus mit. »Eins für euch und eins für den Klaus!«
Sie ging noch mit vor die Tür und wies auf das Haus schräg gegenüber. »Die Glocke, wo nix drauf steht. Passt gut auf euch auf. Servus!«
»Man möchte am liebsten hier bleiben. Die Menschen sind alle so angenehm. Ich versteh diesen Klaus, auch wenn der Anlass ein trauriger ist, hier kann man leben«, sagte Irmi.
»Na, ich glaub nicht, dass du deinen Hof verlassen würdest, auch wenn die
Weitere Kostenlose Bücher